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Last Update: 15.8.1999

 

Erster Teil im Brief aus Safranboulu-Carsi

Trazon, Türkei, 18.1.98

In den vergangenen Tagen ergab sich keine Gelegenheit, mich zurückzuziehen und weiterzuschreiben. Der Annahme einer Einladung folgt nämlich meist die völlige Vereinnahmung durch Gastgeber, deren Freunde und Verwandte, die in den besten Absichten nicht mehr zulassen wollen, dass ich eine Minute allein verbringen muss. Will ich irgendwo hin, wird ein Familienmitglied oder ein Bekannter der Familie damit beauftragt, mich hinzubringen und sicherzustellen, dass mir nichts Böses zustösst. Den Cousin nehmen wir am besten gleich mit, weil der sich in der Gegend auskennt, vorher essen wir aber noch bei der Tante, damit wir die lange Reise von einigen hundert Metern nicht hungrig antreten müssen. Oft ist es schwierig, sich überhaupt wieder loszueisen.

Einmal ist es sogar vorgekommen, dass der Gastgeber nach einem Vertrauensmann am nächsten Zielort herumtelefonierte. Ich wusste davon nichts und war zu Fuss vom Busbahnhof ins Stadtzentrum unterwegs, als mich ein freundlicher Herr mit meinem Namen ansprach und sogleich zum Haus seiner Familie führte. Das ist alles unwahrscheinlich lieb und nett, aber auf die Dauer etwas zuviel des Guten. Zur Abwechslung wünsche ich mir manchmal ein bisschen mehr Privatsphäre. Wie auch immer, ich bin schliesslich gekommen, um Land und Leute kennenzulernen.

Hier am Schwarzen Meer gibt es selbst im Sommer kaum Touristen, und die Leute meinen es noch besser mit mir! Auf Busfahrten ist es schon mehrmals vorgekommen, dass die Sitzordnung umdisponiert und andere Fahrgäste aufgescheucht wurden, damit ich den Platz neben dem Chauffeur einnehmen und ihm die Schönheiten der Schweiz in den höchsten Tönen schildern kann, wobei die Türkei, wie er bereits richtig vermutete, noch viel schöner sei. Vorgestern warf der Fahrer eines innerstädtischen Kleinbusses alle anderen Passagiere buchstäblich raus, um dem Neuankömmling mit Rucksack eine Rundfahrt zu bieten. Da sich keiner der anderen Fahrgäste ungerecht behandelt fühlte und, im Gegenteil, die Idee als gut befanden, war es sinnlos, Widerstand zu leisten. Das Schild auf „Dienstfahrt" umgeschaltet, kurvten wir zu zweit durch die Gassen und steuerten alle Aussichtspunkte der Umgebung an. Das anschliessende Nachtessen nahmen wir bei einer Tante ein, einquartiert wurde ich bei einem Kollegen und für die Weiterreise zur nächsten Destination fand sich ein weiterer Kollege, der zufällig in meine Richtung fuhr. So geht das bei den Türken.

In der Hafenstadt, in der ich mich augenblicklich befinde, ist das Interesse und die Freundlichkeit etwas anders zu interpretieren. Der Küstenstrich im Osten scheint in festen Händen der russischen Mafia zu sein. Noblere Geschäfte sind auch in kyrillischer Schrift angeschrieben, in Seitenstrassen und an Hoteleingängen warten wasserstoffsuperoxydgebleichte, leichtgeschürzte Nataschas, wie sie von der lokalen Bevölkerung genannt werden, auf Kundschaft. Ihre Präsenz stösst auf allgemeinen Unmut in der moslemischen Welt, die sich über den Sittenzerfall beschwert oder zumindest vorgibt, daran Anstoss zu nehmen. Schuld daran ist natürlich wie immer das Angebot, die Nachfrager können selbstverständlich nichts dafür!

Seit dem 31. Dezember ist Ramadan und jeder gute Moslem ist aufgefordert, einen Monat lang tagsüber weder zu trinken noch zu essen oder zu rauchen. Besonders letzteres dürfte den meisten schwerfallen, die rauchen hier nämlich wirklich wie die Türken! Alkohol ist gänzlich untersagt - eine etwas harte Auflage für Silvester und für viele Grund genug, bereist am ersten Tag zu sündigen. Dass in der Tat weniger los ist, war erst ausserhalb Istanbuls spürbar. In kleineren Orten ist das Nachtleben gänzlich stillgelegt, viele Restaurants sind geschlossen und die wenigen, die tagsüber öffnen, verkleben ihre Fenster zum Teil mit Zeitungen, um die Sünder vor den Blicken der Passanten zu schützen. Erwachsene Männer verstecken sich wie Schulbuben in Hauseingängen, um heimlich eine Zigarette zu rauchen.

Die meisten scheinen sich aber an das Fastengebot zu halten, stehen kurz vor Tagesanbruch auf, um sich noch einmal gründlich vollzustopfen, und warten auf die Erlösung vom Minarett kurz nach Sonnenuntergang. Erschallt schliesslich die Stimme des Muhezins, werden Imbissstuben gestürmt, mitgebrachte Fresspakete aufgerissen, falls deren Inhalt nicht schon vorher bereits zum Zugreifen ausgelegt worden ist, und Busse halten mitten auf der Strecke, damit sich auch der Fahrer hastig verpflegen kann. Das Abendgebet erscheint viel kürzer zu sein als sonst:: Offenbar will selbst der Muhezin nicht kostbare Essenszeit verschwenden und legt beim Herunterleiern jeweils deutlich an Tempo zu. Einige lösen das Fastenproblem so, dass sie den Tag zur Nacht machen und durchpennen. Andere wiederum gehen auf Reisen - Reisende, Schwangere und Kinder müssen sich nicht an das Fastengebot halten - und fahren mit dem Bus in die Nachbarstadt; aus dem Handbuch: Fasten kinderleicht! Was das alles bringen soll, weiss hoffentlich wenigstens Allah!

Je weiter ich mich nach Osten bewege, desto häufiger werden Strassensperren, Ausweiskontrollen und Waffendurchsuchungen. Ein kürzlich aus Ostanatolien zurückgekehrter Soldat hat mir erzählt, dass sie den Befehl hatten, jede Nacht in einem Bergdorf ein Haus nach freier Wahl anzuzünden. Er fand das völlig in Ordnung, schliesslich weiss man ja nie, ob sich nicht möglicherweise Terroristen darin verstecken. Das Wehklagen über den EU-Entscheid war übrigens gross und das Unverständnis über die gestellten Forderungen noch grösser, läuft hier doch alles bestens. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, werden gewaltsam zur Räson gebracht. Täglich ist entweder live oder im dauerplätschernden Fernseher, der zum festen Inventar jedes noch so ärmlichen Haushaltes gehört, zu sehen, wie ein Rudel Kleinbusse heranquietscht und mit Schutzmasken, Schildern und Knüppeln ausgerüstete Polizeimänner ausspuckt, die irgendwelche Demonstranten auseinandertreiben und deren mutmassliche Rädelsführer mit überdimensionierter Gewaltanwendung abführen. Derartige Szenen lassen sich auch auf höhere Politebenen übertragen: krawattierte Männer liefern sich unter Missachtung sämtlicher Regeln des fairen Kampfsportes eine Massenschlägerei, die sich sehen lässt. Während die Fetzen fliegen und Papier durch die Luft wirbelt, lässt sich am Rande des Geschehens ein Unermüdlicher nicht im geringsten in seinen von wilden Gesten begleiteten Ausführungen beirren und versucht, sich bei den wenigen auf den Bänken Sitzengebliebenen Gehör zu verschaffen. Was ich hier beschreibe, ist keineswegs das Laientheater einer lokalen Schauspieltruppe, sondern eine Session im Parlament, wie sie vorhin in voller Länge in einer dieser Endlos-Nachrichtensendungen ausgestrahlt wurde. Und die wollen allen Ernstes in die EU!

In einem echten Kontrast zur Realpolitik steht der Kult um Atatürk, der demjenigen um Lenin in nichts nachsteht. Kaum ein Haushalt oder ein Lokal, an dessen Wänden sein Bild nicht mehrfach hängt; kein noch so kleiner Ort, der nicht mindestens eine Strasse nach ihm benannt hätte; kein Platz, kein Park, der nicht mit Statuen und Büsten von ihm geschmückt wäre. Derjenige, der sich anlässlich Atarüks Todestages im vergangenen November erfrecht hatte, die hinlänglich bekannte Tatsache auszusprechen, dass Atatürk bisexuell war, konnte der Lynchjustiz des Mobs nur mit knapper Not entrinnen. Atatürk ist überall und unantastbar, alle lieben ihn, aber nur die wenigsten wissen wieso und wofür genau.

Zum Nachzeichnen der Reiseroute zähle ich kurz die Namen der Orte auf, in denen ich gewesen bin: Istanbul - Izmir - Cesme - Izmir - Selcuk (Ephesus) - Pamukkale - Denizli - Bodrum - Fethiye - Isparta - Göreme (Cappadocia) - Konya - Istanbul - Amasra - Safranboulu - Carci - Sinop - Samsun - Giresum - Trabzon.
Geplant: Erzurum - Dogubeyazet - Teheran. Ich bin gespannt, was mich auf der anderen Seite der Ostgrenze erwartet und freue mich auf Neues.

Ich lasse alle Verwandten, Nachbarn und Freunde grüssen!

Andrea