(Ein Werk der Literatur, das mich tief beeindruckt hat)

Zwei Apfelbäume (oder I. Mose 2 & 3)

Auf den ersten Blick hatte der gute Wagner recht: wir Menschen haben es wirklich "herrlich weit gebracht"; Nicht nur sind wir zum Mond geflogen, nein, wir können auch Mäusen Menschenohren wachsen lassen und von jedem Punkt der Erde aus problemlos ‚nach Hause telefonieren‘ – darum bemühte sich selbst Spielbergs Ausserirdischer E.T. vergebens!

Um so erstaunlicher (beunruhigender?) ist es also, dass wir bei Lichte besehen eigentlich seit tausenden von Jahren keinen Schritt weitergekommen sind. Die technischen Spielereien und wissenschaftlichen Lehrgebäude unserer Zivilisation mögen ein wunderbares Spielfeld für des Menschen Kreativität sein, aber den "kleinen Gott der Welt" drängt es doch in Wirklichkeit nach etwas anderem; wenn wir in schlafloser Nacht mit Gedanken an den Sinn des Lebens und die Natur des Todes schwanger gehen, wünschen wir uns nichts mehr als Antworten. Antworten auf so tiefgründige Fragen, dass wir sie nicht einmal in Worte fassen können.

Küsse, Spinat und Religionen haben dies gemeinsam: als Kind meidet man sie wie die Pest, erst als (junger) Erwachsener erkennt man, wieviel sie einem zu bieten haben. Bei mir war es nicht anders, und folglich konnte ich erst vor kurzem einen Text entdecken, der so tiefe Einsichten in die erwähnten Fragen der Existenz gibt wie kaum ein anderer: die Abschnitte 2 und 3 ganz am Anfang des alten Testamentes; die Vertreibung aus dem Paradies!

Erstaunt musste ich bemerken, wie viele grundlegende Wahrheiten über das Leben und die Welt in dieser oberflächlich beinahe banal wirkenden Geschichte verborgen sind. Etwa dass des Menschen Schritt weg vom Tier und hin zum Verstand unzählige Beschwernisse mit sich gebracht hat; die Scham, die Lüge, die Angst. Dass jede Art von Freiheit auch das Joch der Verantwortung und der Schuld mit sich bringt. Und dass der Mensch "ja" gesagt hat zu dieser Verantwortung.

Wenn das Mass eines klassischen Werkes sein Potential ist, zu jeder Zeit aktuell zu sein, dann kann es kaum etwas Klassischeres geben als diese Stelle aus der Genesis. Sie gleicht nicht, wie andere Texte, einem hübschen Blumenstrauss, der jederzeit zu welken droht; vielmehr ist sie wie ein Garten (Eden?), aus dem immerfort neue Blüten (also Leseerlebnisse) spriessen. So vielfältige moderne Phänomene wie Gentechnologie, Schönheitschirurgie und Massensuizide lassen sich in Kenntniss dieser Jahrtausende alten Geschichte besser verstehen, und umgekehrt kann man auch sie im Wandel der Zeiten immer neu entdecken!

In dem Text geht es um Grundlegendes: Unsere jede moralische Zwickmühle basiert zu guter Letzt darauf, dass wir Menschen erkannt haben, "was gut und böse ist". Die ganze Kosmetik- und Modeindustrie kann nur bestehen, weil die Menschen "gewahr (wurden), dass sie nackt waren." Das philosophische Kopfzerbrechen zahlloser Generationen entstand in dem Sisyphos-Kampf gegen "die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, (...) (die) bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens."

Auf zwei kurzen Seiten nur steht in der Bibel die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies. Doch so sehr wir auch Bücher wälzen und Erfahrungen sammeln mögen, selbst wenn wir unser ganzes Leben daran geben, eine Lösung zu den Fragen der Existenz zu finden, so werden wir meiner Meinung nach kaum über die Einsichten hinauskommen, die in diesem Text aus ferner Vergangenheit enthalten sind.

Ist dies beängstigend? Dass wir Menschen uns seit Jahrtausenden im Kreise drehen, immer dieselben Fehler machend, immer dieselben Hoffnungen hegend? Dass all unsere medizinischen, technischen, wissenschaftlichen Errungenschaften uns eigentlich der Rückkehr ins Paradies keinen Schritt nähergebracht haben?

Man mag es beängstigend finden. Aber man sollte das Wundervolle daran nicht übersehen: der Text ist ein kraftvoller Beleg dafür, wie sehr wir Menschen uns untereinander ähnlich sind! Der Schreiber dieser Bibelabschnitte, der vor einer Ewigkeit und in einem weit entfernten Land gelebt hat, wurde von denselben Ängsten gequält wie ich im Hier und Jetzt!

Zu welcher Zeit und an welchem Ort jemand auch lebt, welche Sprache er auch spricht, er kennt in seinem Innersten meine Hoffnungen und Fragen als die seinen.

Und selbst wenn man diese Fragen wohl nie beantworten kann, sollten wir uns zumindest bewusst werden, wie sehr sie uns verbinden. Vielleicht hören wir dann auch irgendwann auf, (aller guten Dinge – auch Faust-Zitate – sind drei:) "nur tierischer als jedes Tier zu sein."
 
 

© Moritz Gerber