Im September 2000

Sehr geehrter Herr Gerber,

unlängst erhielt ich Einblick in Ihre neueren Internet-Arbeiten. Dabei riefen mir die beiden Texte „Le-bensretter“ und „über Sitzdiebstahl“ ein Geschehen ins Gedächtnis, welches mir einst ein paar Wellen eines kleinen Mittelllandflusses zugetragen haben.

Ein verschlafener Sommertag sei es gewesen, fast wolkenlos, da seien sie selber schläfrig und säumig geworden, sagten jene Wellen. Es habe kein grosses Drängen geherrscht im Flussbett. Sie hätten gut zur Seite ausweichen können, in die Untiefen der Uferzone, wo sich manchmal kleine Wirbel, ja fast kleine Seen bilden. Von einer solchen Stelle beinah stehenden Gewässers aus hätten sie Folgendes erlebt:

Auf dem bewaldeten Uferweg gehen drei Achtzehnjährige. An einer Stelle tritt eine an die fünfundzwan-zig Meter hohe, oben immer senkrechter werdende Sandsteinwand hervor. Im unteren Teil sind in grö-sseren Abständen schwache Einkerbungen sichtbar, wohl von Menschen geschaffen, die da hinaufge-klettert sind. Berggewandt nimmt der Beweglichste der drei die Herausforderung sogleich an und ist schon bald ein schönes Stück in der Wand oben. Der zweite folgt, wenn im Klettern auch ungeübt. Der dritte bleibt unten. In einer Höhe von etwa zwanzig Metern ragt, etwas abseits von der direkten Kletter-route, ein Krüppelbäumchen zur Wand heraus, gerade gross genug, um den beiden gleichzeitig eine minimale Standfläche zu bieten. Erst hier wird auch dem Ungeübten klar, dass ein Abstieg kaum mehr zu schaffen ist, zumal ein Ausrutschen und Fallen aus solcher Höhe tödlich wäre. Und jetzt beginnen seine Knie zu zittern.

Bis zum rettenden Waldstück, das oben die Sandsteinwand abschliesst, bleiben noch fünf Meter zu überwinden übrig. Allerdings ist an ein gewöhnliches Klettern nicht länger zu denken. Die Wand bietet keine Griffe mehr, ein Stahlseil jedoch hängt in der Falllinie der Kletterroute herunter, oben befestigt an Wurzelstöcken. Vom Weg unten hatten die beiden dies nicht wahrgenommen.

Der Gewandte erreicht dieses Seil vom Bäumchen aus mit einem Seitwärts-Spagat, klettert an ihm hoch und schafft es, die Abgrundkante zu überwinden. Er ist in Sicherheit. Beklommen folgt sein Freund. Das Stahlseil in seinen Händen beginnt zu brennen. Was an einem Hanfseil in der Turnhalle ein sportliches Vergnügen, wird hier zur kaum zu bewältigenden Tortur. Nur langsam  gelangt er höher. Die beiden letzten Meter schafft er nicht mehr. Stillstand. Stillhang. Zum Bäumchen zurückzuklettern, um es seit-wärts schwingend zu erreichen, erforderte noch mehr Kraft. Also doch höher! Der Freund redet ihm zu. Aber es geht nicht mehr. Die Hände fühlen sich an wie zerfleischt. Jetzt ist der Absturz ganz nahe. Da bittet der Bedrängte: „Kannst Du Dich nicht an die Wurzeln klammern und mir Deine Beine herunter-hängen lassen, damit ich mich an ihnen festhalten kann? Das wäre nicht so schmerzhaft!“  Ein wahnsin-niges Ansinnen, doch der Kühne geht darauf ein. Bald kann der Verzweifelte vom Messer-Seil zum ‘gepolsterten’ Fussgelenk wechseln. Nun hängt das Gewicht zweier Menschenleiber, zweier Menschen-leben an der Kraft des einen freibaumelnd über dem Abgrund. Eine Ewigkeit scheint es zu dauern. Dann ruft der obere: „Geh ans Seil zurück, sonst muss ich loslassen!“ Der Wechsel erfolgt. Der Helfer be-kommt bald wieder sicheren Boden unter die Füsse. Und eine Art von momentaner wilder, verzweifelter Entschlossenheit ermöglicht es auch dem zweiten, dessen Hände nun nicht mehr so brennen, den Rest der Wand zu bezwingen.

...........Wie ausser sich schreit er dem auf dem Uferweg unten Zurückgebliebenen etwas zu, anstatt seinem Lebensretter zu danken. Wie klein man sein kann auch in grossen Momenten.

Wieso ich Ihnen das mitteile, lieber Herr Gerber? Nicht nur wegen der Parallelität zu Ihren Texten (Le-bensretter, Sitzdiebstahl). Es gibt noch eine andere Parallelität. Zu Ihnen selber. Jener Lebensretter war nämlich Karl-Christoph Gerber, Ihr Vater.

       Mit herzlichen, herbstlichen Grüssen

         Ihr Herbst