Sehr geehrter Herr Gerber,

jüngst gelang es einem forschen Wind, der uns  Jahreszeiten sonst gute Dienste leistet, sich still davonzumachen. Statt ordentlich in dürre Buchen- und Eichenblätter zu fahren, raschelte er neugierig in ausgedruckten Internet-Seiten und stiess dabei unerwartet auf Ihr Schreiben an mich. Er dachte trotz seiner Versäumnisse ungeschoren davonzukommen, indem er mir Ihren Brief brachte. Nun, ich will gestehen, wenn ich ihm gegenüber auch streng bleiben musste, dass mir Ihre Zeilen Freude bereitet haben. Dies in zwiefacher Hinsicht.
    Einmal gehört es zu meinen liebsten Aufgaben, die Welt mit warmen, leuchtenden Farben zu überziehen. Dabei gebe ich mir besondere Mühe, gerade die kalten Farben, etwa ein stark aufgehelltes Preussischblau, in ganz feiner, fast homöopathischer Dosis zwischen starkem Gelb und Rotorange mitwirken zu lassen. Was mir doch das Hellblau des Rauhreifs dabei hilft! Darin liegt eines meiner Kunstmittel, Plakatives oder Effekthascherisches zu vermeiden. Wie  Sie solches entdeckt haben, freut mich sehr.
    Zum zweiten aber hat mich besonders berührt, dass ich für Sie ein eigenständiges, individuelles Wesen zu sein scheine! Oder täusche ich mich da? Anderseits, hätten Sie mich dann so persönlich angesprochen? Für viele aufgeschlossene Zeitgenossen bin ich mehr und mehr ein Unwirkliches geworden, ein eigentliches Nichts. Das Wirkliche - so denken diese Zeitgenossen - sei eine riesige Summe von materiellen, z.B. chemischen Natur-Vorgängen (Reifen, Welken) innerhalb eines Zeitraums von etwa drei Monaten. Das Gesamte dieser Vorgänge bezeichnen sie der Einfachheit halber mit einem Abstraktum, eben mit dem blossen Wort Herbst. Dass hinter all diesen Vorgängen ein sie lenkendes Bewusstsein stehen könnte, dem es nicht gleichgültig ist, wie die Früchte des Feldes zur Reife kommen, die ziehenden Vögel ihren Weg in den Süden finden, wie die Flüsse und Seen sich abkühlen, ein schöpferisch wirksames Bewusstsein, dem das Reifwerden des Jahres eine Herzensangelegenheit ist, das zu erkennen oder wenigsten noch zu erahnen, ist den heute Aufgeschlossenen kaum mehr möglich.
     Dies ging mir als Stossseufzer durch die Brust, als ich Ihren Brief las, lieber Herr Gerber. Doch was klage ich? Wir haben uns ja schon lange daran gewöhnt, als nichts Wirkliches mehr zu gelten, wir, die wir Legion sind, die schaffenden Mächte der Natur. Und ist’s nicht besser so, denn als jene zu menschenähnlich ausgedachten und ausgemalten Gestalten die Seiten von Erbauungsschriften zu zieren, wie wir das im vorletzten Jahrhundert noch mussten, als man mich oder auch meinen Freund, den ehrwürdigen Vater Rhein, als muskelbepackte, ältere Herren konterfeite.Solche Herren sind wir nicht! Ein Auge, das uns sähe, sähe uns ganz anders, schöner und schrecklicher zugleich. Und während es uns sähe, würde es selber dem Rhein verwandt, würd’ selber zum Herbstklang werden.
    Ich schweife ab, lieber Herr Gerber. Sie verstehen, sich kurz zu fassen. Ihre Worte wirken wie hingetupft, hingetuscht, wie’s die japanischen Tuschemaler verstehen.

                                                                Seien Sie dankbar gegrüsst von Ihrem Herbst.
 

P.S.   Uebrigens steht mir keine Internetseite und nur selten ein Internetanschluss zur Verfügung, oder besser meinem Sekretär, dem ich diese Zeilen zuzuraunen versuchte. Wieviel er von meiner Sprache verstanden, ob und wann er das Verstandene  weiterleiten wird, ich weiss es nicht. Er ist auch nur ein Mensch und hört den Geist der Natur verworren.