Eine unbedeutende Zweigstelle der Hölle

Oh, wie ich diese Situation hasse...

Gibt es eigentlich eine Situation, die ich mehr hasse? Naja, vermutlich schon, sicher sogar... von Atomkrieg bis Zahnarztbesuch jede Menge... aber das zählt nicht richtig, habe ich ja beides noch nie richtig erlebt. Gnade der frühen Geburt könnte man vielleicht meinen, wenn man nach Indien und Pakistan blickt.

Jedenfalls: Nein, diese Sitation ist schon eindeutig die unangenehmste. Halb Zwölf, ich schreibe spät in Nacht und – draussen – Wind. Innen: Stille im ganzen Haus. Die Dunkelheit in meinem Zimmer nur gestört vom kränkelnden Schimmer des Monitors. Auf dem partout kein schlauer Text entstehen will. Das ist eine top-unangenehme Situation, aber sicher. Eine Zweigstelle der Hölle sozusagen...

Schreibblock. Blockschreib. Breibschlock. Ein weiterer Nachteil davon, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein. Auch das haben wir dem verhängnissvollen Biss in den Apfel zu verdanken, wunderbar. Sowieso... wie weit ist es mit uns eigentlich gekommen? Das ist doch völlig krank, hier mitten in der Nacht vor dem Computer zu sitzen, mit schmerzenden Augen, die Luft stickig, dazu Verdauungsprobleme. Warum nicht einfach ins Bett liegen und schlafen? Warum soll ich unbedingt etwas zu Papier bringen?

... Diese verdammte Kluft, dieser Riss, der mitten durch jeden Menschen geht. Ich hasse diesen Riss, und dass Goethe einen so wunderbaren Ausdruck dafür gefunden hat, das hasse ich noch viel mehr. "Zwei Seelen in der Brust"... schon toll ausgedrückt.

Alles, was Goethe schon geschrieben hat, kann ich nicht mehr schreiben.

Und Goethe ist nicht der einzige, da waren ganze Heerscharen von Autoren am Werk, die mir die Worte von der Feder – naja, von der Tastatur – weggeschrieben haben, noch bevor ich überhaupt geboren war! Ist doch eine Schweinerei!

Naja, wen belüge ich da eigentlich? Ich kann’s eben nicht, fertig. Punkt: . Und doch zwingt mich diese Kluft zwischen tierischem Einssein mit der Welt und menschlichem Streben nach mehr, höherem, tieferem immer wieder dazu, mir den Arsch vor dem Bildschirm plattzusitzen. Bei den Tieren ist das alles so einfach.

Gorillas zum Beispiel. Die sind einfach Gorillas, mit Leib und Seele. Sie haben Gorilla-Füsse, mit denen stehen sie fest auf dem Boden der Erde. Sie haben Gorilla-Genitalien, mit denen haben sie tollen Gorilla-Sex. Und in ihren Gorilla-Köpfen steckt ein Gorilla-Hirn mit Gorilla-Gedanken.

In unseren Menschen-Köpfen stecken ganz eigenartige, unpassende, unbequeme Gedanken, keine Ahnung, wo die herkommen. Der göttliche Funke oder so. Jedenfalls sind Menschen-Gedanken mit Menschen-Möglichkeiten oft überhaupt nicht kompatibel, als hätte Gott uns das falsche Betriebssystem mitgegeben. Tiere haben das Problem nicht. Tiere sind Mac™, Menschen Windows™...

Was will ich eigentlich schreiben? Einfach irgendwas? Kann ich ja nicht. Es gibt schon so viele, die irgendwas geschrieben haben... zum Kotzen, diese Papierberge, diese endlosen Seiten voller Worte. Ich kann gar nicht soviel davon lesen wie ich gerne in der Luft zerreissen möchte. Und am schlimmsten ist, dass die meisten davon wohl doch noch besser sind als das, was ich auf den Monitor bringe.

... Vielleicht sollte ich mal etwas esen, so zur Entspannung. Aber so spät sollte man ja eben nichts essen, jaja, bla bla. Ich hab‘ sowieso zugenommen, Scheisse.

Wie soll man sich denn auf das Schreiben konzentrieren können, wenn man zugenommen hat? Das ist wie dieser Spruch, wie ging der nochmal... "Was kümmert mich Vietnam wenn ich Orgasmusprobleme habe?"

Finde ich den Spruch eigentlich gut? Weiss gar nicht... irgendwie zu egoistisch. Aber Egoismus bringt einem eben weiter, Egoismus und Arroganz. Man darf nicht zu sehr Rücksicht nehmen, keine zu grosse Ehrfurcht haben. Vor Goethe zum Beispiel. Der war auch nur ein Mensch! Der hatte sicher auch Verdauungsprobleme!

Ach, da fällt mir ein... ich hatte doch gar nicht immer so viel Respekt vor diesen ehrwürdigen Figuren. Das war... in der siebten Klasse oder so, genau! Im Deutschunterricht mussten wir den "Erlkönig" vorführen.

"Wer reitet so spät durch Nacht und Wind, es ist der Vater mit seinem Kind. Er hält es sicher, er hält es warm..." Weiter weiss ich nicht. Auch ein fantastischer Anfang. Aber da waren wir ganz respektlos bei unserer Vorführung: Gerade als der Erlkönig sich das Kind greifen will, springen zwei von unserer Truppe mit Staubsaugern bewehrt hinter dem Schrank hervor, und aus einem versteckten Kassettengerät dröhnt dazu die "Ghostbusters"-Musik...

"Vater, Vater!" – "Who you gonna call? GHOSTBUSTERS!" Und dann dem Erlkönig eine volle Salve Geisterarschtrittstrahlen reingehauen... das war ein Auftritt.

Irgendwie Gorilla-mässig.

Aber auch destruktiv, das soll man nicht vergessen. Und ich will jetzt endlich kreativ sein, kreativ kreativ kreativ! Ich kann nicht einschlafen, wenn ich nicht erst etwas Kreatives gemacht hab‘! "Ohne Krimmi geht die Mimmi nie ins Bett..." Ohne Kreativität kann ich nicht pennen. Punkt. Da: .

Es ist schrecklich, nicht kreativ zu sein. Immer nur lesen, hören, sehen, schlucken, schlingen, schlürfen, immer alles in sich reinsaugen, nur nie was von sich geben! Wie ein schwarzes Loch – auch genauso unsichtbar wie eines. Und dann stirbt man und niemand merkt’s, weil man eben immer nur reingeschluckt hat, und nie ‘rausgegeben. Schlimm, da darf ich gar nicht dran denken!

Lobbschreick. Erblickbosch. Ich frag‘ mich immer, wie das die anderen machen. Einfach so schreiben. Auch um Mitternacht, mit brennenden Augen, müde und schlapp? Und dann? Einfach hin mit dem Satz, zack? Zum Beispiel hier, dieses Jandl-Gedicht... "Er flog hoch / über den anderen / Die blieben im Sand / Krebse und Tintenfische."

Warum Krebse und Tintenfische? Warum Krebse? Warum Tintenfische? Hat das tiefere Bedeutung, oder sind es eben einfach Krebse, und Tintenfische? Worte sind’s – also muss sich doch auch was dabei denken lassen!

Hat der Jandl beim Schreiben einfach kurz innegehalten, zur Decke geblickt: "Hmmm... was nehmen wir denn? Zebras und Pottwale? ... nein! Vielleicht... Krebse... und, hmmm... Tintenfische, genau!"

So? Oder anders? Jetzt oder nie? To be or not to be? Ach, das führt doch zu nichts... Ich sollte vielleicht etwas essen, zur Entspannung. Vielleicht Krebse und Tintenfische. Ach, Quatsch!

Ist es eigentlich nicht so, dass mit jedem Gedanken, den ich auf den Bildschirm bringe und dann wieder auslösche, ein Teil von mir wegstirbt? Nach und nach schneide ich all das weg, was mir an meinen Gedanken nicht originell, spannend, interessant, wertvoll genug scheint. Und wenn am Ende nichts übrig bleibt? Nichts, nicht einmal dieser Gedankengang, ich müsste verstummen, nicht nur akkustisch, sondern auch innen, im Kopf, gedanklich...

...

...

...

... so etwa. Die Gedanken wären nicht nur nicht wert, geschrieben, sondern auch nicht wert, gedacht zu werden. Da bräuchte man eine Gedankenpolizei, wie in "1984". Oh, Mensch, das war ein geniales Buch. Warum kann ich nicht einfach jetzt genau so eines schreiben? Geschieht’s nicht jetzt, dann später, wenn nicht später, dann jetzt, mitten in der Nacht! Es hindert mich ja niemand! Die Worte stehen eigentlich schon da, ich muss sie nur noch hintippen!

Es gibt viel zu tippen, also Moos!

Wie bei dem Rat an den Bildhauer, der verzweifelt vor dem Granitblock sitzt: "Hau‘ einfach alles weg, was nicht nach Löwe aussieht!" Ganz toll.

Ich bin jetzt echt zu müde, zu allem. Zu allem zu müde zu sein. Zu zu zu. Suuuper.

Doch, ich hab‘ eindeutig zugenommen, hier, dieser Rettungsring...

Schon fast ein Uhr.

So, Computer aus.

Schon wieder nichts hingekriegt.

Scheisse.

In meinem nächsten Leben will ich als Gorilla wiedergeboren werden.

Leckbischrob.
 


(c) Moritz Gerber