Über Sitzdiebstahl

 

Über viele Aspekte des eigenen Charakters kann man nicht viel genauer Auskunft geben als in der Art eines Wetterberichts. Wenn jene Luftfront so weit in diese Richtung triebe, würde sie wohl diesen Effekt haben – so rätselt man über das mögliche Verhalten von Wind und Wolken. Schlau ist man immer erst nachher; sowohl was das Wetter, als auch was die eigene Person angeht.

Gerät man also in eine neuartige Situation, so kann man seine eigene Reaktion darauf interessiert beobachten, und dabei manchmal ebenso überrascht werden wie ein Unbeteiligter es würde. Ein Beispiel dafür ist das bekannte: wie würde man reagieren, wenn man eine Person ins Wasser fallen und zu ertrinken beginnen sähe? Wie ein Wetterbericht bleibt also jede theoretische Antwort auf diese Frage Spekulation. Gewiss kann ich persönlich für ein Hinterherspringen und einen Rettungsversuch ohne Erfahrungsgrundlange keine Garantie geben.

Aber auch wenn ich kein unbedingter Held sein sollte, so kann man es sich mit mir doch leichter oder eben schwerer machen. Kommen wir also zum Thema.

Ich sass kürzlich in einem Zug; noch im Bahnhof, noch stiegen Leute zu. Die Sitzplätze waren bald voll besetzt soweit mein Auge reichte, bis auf den einen letzten mir gerade gegenüber. Dieser letzte wurde schnell von zwei jungen Damen entdeckt, Freundinnen offenbar, und beide anständig genug, um der jeweils anderen mit freundlichem Fächerschwung der Hand den Vortritt anzubieten.

Nun kann man, auch als Freund von Zier und Höflichkeit, gut eingestehen, dass solche "Nein, du! Nein, du! Nein, du zuerst!"–Diskussionen über eine relativ kurze Dauer nicht hinausgehen dürfen, ja im Grunde schon bei der ersten Wiederholung dem Überflüssigen, bei der zweiten dem Albernen nahekommen und gleich darauf zur definitiven Strapaze von Nerv und Verstand werden. Trotzdem löste es mein grosses Erstaunen aus, als sich plötzlich ein pfannkuchiger Herr hastig an den zwei Damen vorbeidrängte und mit wohligem Aufatmen in den betreffenden letzten freien Sitz fallen liess. Dieser Herr - den ich, schlimmere Unflätigkeiten vermeidend, einfach damit beschreiben will, dass ihm zur Kröte bloss noch das Grün fehlte -, dieser Herr also nannte zwar eine halbe Glatze und unter den verbleibenden Haaren eine stattliche Anzahl ergrauter sein eigen und teilte den Körperbau mit einer Wassermelone, war aber trotzdem auf keine Art und Weise einer jener Personengruppen zuzuordnen, die aufgrund hohen Alters oder körperlicher Eingeschränktheiten einen besonderen Anspruch auf einen Sitzplatz haben. Dessen war er sich auch vollends bewusst – anders war sein verschmitzt-höhnisches Lächeln nicht zu erklären, welches er den verdutzten Damen zuwarf, denen er eben so flink den Sitz gestohlen hatte.

Um auf die einleitenden Worte zurückzukommen muss ich diese Geschichte jetzt über ihren wahren Kern hinaus ins Reich der Fiktion weiterführen und damit wieder zum Thema "Lebensrettung" finden. Ich hätte damals in jenem Zug kein Buch mit mir, so dass ich gezwungen war, mir die Zeit anderswie zu vertreiben; weshalb ich mich in Gedankenspielen erging. Folgendes überlegte ich: Angenommen, meine vor den Kopf gestossene Wenigkeit und jener menschgewordene Ellenbogen stiegen am selben Bahnhof aus dem Zug, und nähmen weiter auch zu Fuss ein Stück den selben Weg; angenommen, dieser Weg führte uns über eine Brücke, und aus irgendeinem Grunde geriete der Herr ins Stolpern und stürzte gar von der Brücke ins Wasser, wo sich dann erwiese, dass er des Schwimmens nicht mächtig sei (also noch ein Unterschied zur Kröte); all dies angenommen – würde ich dann hinterherspringen und einen Rettungsversuch starten?

Auch hier fehlt der Theorie die Probe auf’s Exempel, es muss eine verlässliche Antwort ausbleiben. Doch eins kann mit Sicherheit gesagt werden; dass ich Zeuge werden musste eines so unverfrorenen Sitzdiebstahls hätte zweifellos einen spürbaren, wenn nicht gar drastischen Einfluss auf meine Willigkeit, mein Leben für das des betreffenden Diebes aufs Spiel zu setzen.

Verzwickterweise gibt es natürlich keine Berechtigung dafür, eine so wichtige Entscheidung wie die des Lebensrettens von einem so nichtigen Vorkommnis wie dem des Sitzdiebstahls abhängig zu machen. Jener Herr mag soviel ich weiss oder eben nicht weiss ein treuer Ehemann, liebender Vater, talentierter Tulpenzüchter und Ehrenmitglied von Greenpeace sein. Mein Verhalten ihm gegenüber gänzlich auf der Kenntnis einer raschen Unverschämtheit aufzubauen ist in gewissem Sinne ein schlimmes Vergehen.

Nichtsdestotrotz: was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss, was ich weiss aber umgekehrt sehr wohl. Da man niemanden, bekanntermassen nicht einmal sich selbst, wirklich vollständig kennen kann, baut man sich ein Bild eben aus einzelnen Beobachtungen zusammen, mal aus mehr, mal aus weniger – aus gemeinsam verbrachten Ehejahren, aus einem Mittelscheitel, aus einem Sitzdiebstahl.

Was heisst dies alles nun? Natürlich, wie überhaupt alles, gerade soviel, wie ein jeder es irgendwas heissen zu lassen beliebt. Was übrigens wieder sehr an den Wetterbericht erinnert. Man könnte zum Beispiel aus diesen Überlegungen schliessen, dass der sich vordrängende Herr durch sein Verhalten seine Lebenserwartung leicht verringert hat; denn, so klein die Wahrscheinlichkeit auch ist, sollte er je in die Gefahr des Ertrinkens geraten und ich mich imstande sehen, ihm Hilfe zu leisten, so wäre ich, wie eben dargelegt, inzwischen weniger geneigt, dies zu tun – die anderen Zeugen seines Sitzdiebstahls übrigens sicher auch. Es ist in gewissem Sinne sogar so, dass wir laufend durch unser Verhalten die Wahrscheinlichkeit senken oder erhöhen, ob sich unter den jeweils Anwesenden jemand fände, der im Falle eines Falles uns vor dem Ertrinken zu retten versuchen würde. Wollte man weiter in diese Richtung forschen, dann wäre zu bedenken, ob die Gefahr, tatsächlich einmal in so eine Notlage zu geraten, derart klein ist, dass sie zu vernachlässigen ist und der Zugewinn an Komfort z.B. durch einen Sitzdiebstahl die Erhöhung des Risikos gerechtfertigt. Und so weiter.

Andererseits könnte man aus diesen Gedankengängen schliessen, dass die Zusammenhänge und Hintergründe einer jeden Situation und einer jeden Tat so unübersichtlich und Komplex sind, dass man sich ein Urteil meist gar nicht erlauben darf – und erst recht keine Handlung. Wieviel Information benötigt man über einen Ertrinkenden, damit man eine fundierte Entscheidung darüber treffen kann, ob ihm hinterherzuspringen ist oder nicht? Allein dass man ihn kurz zuvor beim Sitzdiebstahl beobachtet hat, darf doch nicht das Gute und das Schlechte aus seinen vorhergegangenen Lebensjahrzehnten überdecken!

Darin erkennt man wieder die Ähnlichkeit zum Wetterbericht; es mangelt dort wie hier, in der Meterologie wie im "richtigen Leben", an Information. Man muss hier wie dort ins Blaue hinein handeln, schätzen, vermuten, und sich am Ende dann doch überraschen lassen.

© 2000 Moritz Gerber