Entgleisung

Ich sitze im Zug, ein stehender Zug in einem kleinen Bahnhof. Ein kleiner Bahnhof mitten zwischen zwei anderen kleinen Bahnhöfen.

Bloss weil ich zum Lesen zu müde bin, schaue ich aus dem Fenster. Sogar das helle Nachmittagslicht fällt mit Langeweile und Widerwille auf den trockenen Parkplatzasphalt, den dreckigen Traktor, auf das kleine Stationsgebäude.

Dann Bewegung, vor diesem unbewegten Hintergrund: ein altes Frauchen, ein anderes Wort zu suchen würde dem Bild nicht gerecht, stelzt ohne Zögern über das in die Gegenrichtung führende Gleis. Sie kürzt den Weg zur Strasse ab. Noch zweimal hebt das Frauchen einen Fuss, mein Zug fährt wieder an, das Frauchen tritt auf den langweiligen Parkplatzasphalt, mein Zug gewinnt an Geschwindigkeit, das langweilige Stationsgebäude fährt an mir vorbei. Ich an ihm natürlich.

Meine Gedanken fahren nicht mit im Zug. Von Nirgendwo über Nirgends nach Irgendwo, wo ich hinwill, aber ich denke an das Frauchen. Weshalb steigt ein alter Mensch über ein Gleis, unvorsichtig, regelwidrig, man sieht das sonst nicht, wie muss man sich das erklären?

So vielleicht: Das Abkürzen des Weges gewinnt mit zunehmendem Alter an Gewicht, da das Gehen schwerer fällt. AdW*SdG (Abkürzen des Weges multipliziert mit der Schwierigkeit des Gehens).

Umgekehrt verliert eine Bedrohung des Lebes an Bedeutung, weil immer weniger Leben übrig ist, das noch bedroht werden kann, und darüberhinaus wird die verbleibende Zeit im Allgemeinen als von minderer Qualität betrachtet. ÜL/VdL (Übrige Lebenszeit geteilt durch die Verminderung der Lebensqualität).

Also: Wenn AdW*SdG grösser ist als ÜL/VdL, kann das Frauchen durchaus Recht gehabt haben. Es nimmt zur Schonung der müden Beine das kleine Risiko in Kauf, von einem Zug in Fetzen gerissen zu werden.

Oder es ist einfach nur dumm.

Trotz der vielen Jahre, in denen es Weisheit hätte sammeln können. Aber es hat halt eben lieber mit der Nachbarsfrau geschwatzt, oder sich vom Nachbarsmann besteigen lassen, oder von der Nachbarsfrau, oder vielleicht hat es gekocht und geputzt – aber weise wird man ja vielleicht auch davon.

Oder man wird weise, indem man in einem heissen Vorortszug sitzt und sich das gelangweilte, widerwillige Nachmittagslicht auf die geschlossenen Augenlider fallen lässt und solche Sätze denkt wie diesen, oder den folgenden, oder einen der vorherigen.

Oder, ganz anders, man ist umgekehrt gerade dann dumm, wenn man nicht über die Gleise klettert, sondern Tag für Tag zu der Unterführung läuft, obwohl doch nie oder fast nie ein Zug kommt, der einem gefährlich würde.

Ich weiss es nicht, bin aber immerhin gerade im nächsten kleinen Bahnhof angekommen, und dem Irgendwo schon wieder etwas näher.
 
 

© Moritz Gerber