ELFENSOHN
































" Ein etwa vierzigjähriger Mann starb in der Nacht zum Mittwoch kurz nachdem ihn die Polizei im Bezirk Hellersdorf in Gewahrsam genommen hatte. Beunruhigte Anwohner hatten die Ordnungskräfte alarmiert, da der offensichtlich geistesgestörte Mann unbekleidet mitten durch die Strasse lief und mehrmals dieselben unsinnigen Sätze wiederholte. Mehrere Augenzeugen erinnerten sich nach Angaben der Pressestelle der Polizei an den genauen Wortlaut der Parolen; " Rettet euch! Die zwölf Richter fällen die Entscheidung! Das Ende ist nah! " Todesursache und Identität des Mannes sind bisher noch unbekannt. Mit sachdienlichen Hinweisen wenden sie sich bitte an die Polizeiwache Hellersdorf. Auffäligstes Merkmal des 1.80 m grossen, schwarzhaarigen Mannes sind seine roten Pupillen. Der zuständige Gerichtsmediziner sagte in einer ersten offiziellen Stellungsnahme, er "habe so etwas noch nie gesehen und stünde vor einem einmaligen Rätsel." "

Berliner Morgenpost vom 14. Februar 2001
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Teil I - PASSION
 
 
 
 

Erstes Kapitel:

Yshnaz – Die Geburt



" Und es wird wieder geschehen, dass EINER zu uns kommet, DER nicht Theil von uns ist. Und die Welt wird erzittern in Ehrfurcht bei SEINER Ankunft, und doch sollen wir IHN nicht erkennen, bis es zu späht sey. Und ER wird in SEINEN Händen halten alle Fäden des Schicksals, alles Geschehne und alles Zukünftige, aller Raum und alle Zeit werden bei IHM zusammenlaufen, wenn ER in einem winzigen Herzesschlag entscheyden wird für alle Unendlichkeit..."

Aus: "Lehren des Propheten Vandrak",

Erstes Buch
 
 

Weit über den Wiesen und Wäldern Kadmoz‘, weit über den Schwingen seiner Vögel, weit auch über den Kämmen und Klüften seiner Berge...

Schwere Wolken trieben in klirrender Kälte und tosendem Wind über den Himmel. Plötzlich wie aus dem Nichts gebar ein dumpfes Grollen eine erste, kleine Schneeflocke. Lautlos begann der strahlend weisse Eiskristall seinen weiten Fall.

Immer wieder wurde er auf seinem Weg von stürmischen Luftwirbeln erfasst und sprang wild hin- und her. Bald haben sich tausend, hunderttausend, millionen andere Flocken seinem Tanz angeschlossen, und gemeinsam glitten sie in tiefer Stille durch die nachtschwarzen Höhen.

Dann, endlich, streckte die Welt ihnen einen ersten Gipfel entgegen; Einen kantige Bergspitze, verborgen unter ewigem Eis. Der kleine Kristall fiel weiter in die schwarze Tiefe. Sank vorbei an einer schweigenden Welt aus Frost und Schnee.

Da wurde er plötzlich mitgerissen von einem heftigen Windstoss. Durch tiefe Schluchten heulend trug die beissend kalte Bergluft den Kristall immer schneller nach unten, weiter der Welt entgegen. Schliesslich gab sie ihn wieder frei, nur noch ein kleines Stück trennte ihn von seinem Ziel.

Noch immer weit entfernt von den dichten Wäldern, den breiten Strömen und weiten Hügeln endete die Reise des Kristalles an den Hängen des Berges Ifin. Sanft landete er auf dem kalten Steinsims eines kleinen Fensters, durch das helles Licht und eine warme Stimme in die weite Dunkelheit der Nacht drangen...

"... Da kam ein Gewitter über das Land Kadmoz wie es auch die ältesten seiner Einwohner noch nicht erlebt hatten. Krachende Donner hallten durch den Himmel, als ob die Berge selbst zerbärsten. Zuckenden Blitze erhellten die Nacht mit nimmer endendem Feuerspiel. Die Wolken wogten mächtig rasend über den Himmel, übereinander hereinstürzend und sich wieder aufballend wie eine Heerschar aus tausend schwarzengewandeten Kriegern.

Selbst die kühnsten unter den Elfen wagten in dieser tosenden Schlacht von tiefstem Dunkel gegen blendende Helligkeit kaum aus ihren Häusern zu blicken. Die meisten sassen im Zimmer beisammen, und wenn sie es nicht aus Furcht taten, dann aus Vernunft. Niemand durfte hoffen, sich bei diesem Unwetter im Freien zu bewegen und am nächsten Tag noch den eigenen Schritt zu gehen..."

Vamliz hatte es nie gut vermocht, seine Gefühle zu verbergen. Meist probierte er es gar nicht erst. Wie er es auch jetzt nicht tat; Schon aus seinen feinen Gesichtszügen war unschwer herauszulesen, wie wenig er sich für die Worte seines Mentor interessierte.

Der Rest seines Körpers sprach aber eine noch viel deutlichere Sprache; Er hockte ein wenig vornüber geneigt auf der schweren Marmorplattform und liess seine Beine über deren Rand baumeln, seine Fersen klopften auf dem weissen Stein den Takt eines alten Liedes.

Dieses Lied ging ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf, an den Text konnte er sich jedoch partout nicht erinnern. Obwohl ihm dies überhaupt nicht gefiel, konnte er sich auch darauf nicht wirklich konzentrieren. Was auch immer er im Laufe des Tages getan und gedacht hatte, am Ende waren seine Gedanken immer zu der selben Frage zurückgekehrt. Das Yshnaz-Ritual...

Hinter Vamliz‘ Rücken sassen im Halbkreis all die anderen Schüler, zwölf Elfenjungen- und mädchen. Sie lauschten gebannt dem alten Kosteras, ihrem Mentor der Geschichte. Vamliz brauchte nur die Augen zu schliessen, und schon sah er im Geiste ganz genau, was sich dort hinter seinem Rücken abspielte. So oft hatte er es schon erlebt – und dabei sehr aufmerksam zugehört. Mentor Kosteras war ihm vertraut wie ein Vater, er kannte seine Bewegungen, seine Stimme, seinen Blick.

Obwohl der Mentor aufgrund seines Alters manchmal beinahe zerbrechlich wirkte, hatte er ungewöhnlich leuchtende, hellblaue Augen. In seiner Stimme lag mehr Kraft als in den Armen und Beinen manch jungen Kriegers. Er durchlief beim Erzählen alle Tonhöhen, flüsterte, grollte - und wenn es nötig war, schwieg er auch. Wenn er sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer nicht sicher war ging er auf einen seiner jungen Schützlinge zu und löcherte ihn mit zahllosen Fragen. Seine Arme und Hände waren immer in Bewegung, er zeichnete mit ihnen nach, was er mit Worten zu schildern versuchte.

Dabei schlugen seine blau und grün schimmernden Armreife jeweils so heftig aneinander, dass er ob all des Klimperns noch lauter sprechen musste als er es sowieso schon tat – so war es nicht erstaunlich, dass man auch dann wusste, worüber Kosteras gerade sprach, wenn man nur im Säulengang vor der Pforte der Unterrichtshalle vorbeiging.

Vamliz war also bestimmt nicht deshalb gelangweilt, weil sein Mentor kein guter Redner war, oder weil ihm das Erzählte nicht gefiel – im Gegenteil, Kosteras erzählte gerade eine seiner liebsten historischen Sagen. Eigentlich war Vamliz überhaupt nicht gelangweilt, seine Gedanken hingen nur so sehr an einer bestimmten Sache fest, dass ihm alles andere wie eine Nebensächlichkeit vorkam. Wie konnten seine Mentoren erwarten, dass er sich auf Sagen und alte Lehren konzentrierte, da doch heute seine Fürstin das Yshnaz-Ritual vollbrachte?

Kosteras stand inmitten seiner Schüler und liess seinen Blick beim Sprechen langsam vom einem zum anderen schweifen. Manchmal wehten ein paar Schneeflocken durch eines der schmalen Fenster bis vor die Füsse des Mentors – doch der Alte schien beim Erzählen weder den Wind noch die Kälte überhaupt zu bemerken.

"... Gundar d'Hurya zog sein mächtiges Schwert und liess es mit ganzer Kraft krachend auf die Lanze des riesigen Gogs fallen! Wie einen stürzenden Baum, der alles zermalmt, was unter seinem breiten Stamme sich... Entschuldigt!"

Der Mentor räusperte sich und rief mit trockener Stimme in Vamliz‘ Richtung: "Vamliz, auch wenn es schon spät ist, so erzähle ich doch keine Gutenachtgeschichte. Dies ist eine wichtige Episode aus der Chronik der Familie d'Hurya, und als Schüler des Wassers solltest du sie kennen."

Vamliz drehte sich erschrocken um. Er sah, dass auch die anderen Schüler sich umgewandt hatten und ihn nun mit kaum verhohlener Schadenfreude angrinsten. Ihre etwas angespitzten schneeweissen Zähne strahlten aus den tintenschwarzen Gesichtern hervor. Nur Lenya, von allen Schülern die jüngste, schien das Ganze gar nicht mitzubekommen. Ihr Gesichtt, als einziges im Raum weiss wie Elfenbein, war einer der beiden Feuerschale zugerichtet, mit grossen Augen beobachtete sie den Tanz der Flammen.

Vamliz bemerkte gar nicht wirklich, dass die Schüler sich über seine Unaufmerksamkeit freuten, so sehr war sein Blick auf Lenya geheftet. Schon als er ihr zum ersten Mal begegnet war hatte der Anblick ihrer hellen Haut und ihrer blauen Augen ihn staunen machen. Nicht, dass er dies jemals einem seiner Mitschüler gegenüber zugegeben hätte. Schliesslich habe ich...

Ein ungeduldiges Räuspern des Mentors riss Vamliz erneut aus seinen Gedanken. Er hatte im Moment ein drängerendes Problem. Gerade war er für seine Unaufmerksamkeit, seine Disziplinlosigkeit getadelt worden. Doch Vamliz gehörte, wie alle Schüler in diesem Trakt, zur Kaste der Kontrolle und Lehre gehörte, zur der Wasserkaste. Disziplin und Aufmerksamkeit waren seine Verpflichtungen, und die hatte er eben nicht gerade rühmlich befolgt...

Hastig richtete Vamliz sich endlich auf, verschränkte die Arme und beugte ein wenig den Kopf – eine Geste der Demut, die nicht immer half, aber bestimmt nie schaden konnte.

"Mentor Kosteras, es tut mir leid, dass ich nicht aufgepasst habe! Ich will gerne alle Chroniken der Familie d'Hurya hören!" Er zögerte kurz, nahm schliesslich seinen Mumm zusammen und fügte hinzu: "Aber die Lady meines Fürsten vollbringt heute das Yshnaz-Ritual, und ich muss dauernd daran denken, ob sie, ... ob das Kind, ... ich weiss nicht, wann ...".

Es fiel ihm eigentlich kein wirklicher Grund ein, weshalb er unaufmerksam sein sollte, wenn seine Herrin ein Kind bekam. Schliesslich war er nicht verwandt mit ihr, er war nur der Sohn eines Bediensteten, sein Vater wachte als Stallmeister über die Gandarvas. Die Fürstin kannte wohl nicht einmal Vamliz‘ Namen.

Nichtsdestotrotz, er hatte noch nie einen Säugling gesehen und war sehr neugierig. Ausserdem hatten alle Bediensteten im Palast seit Tagen vom Yshnaz-Ritual gesprochen, und sowieso war er der einzige auf der Burg, der jünger war als dreissig Jahre, und mit seinen sieben Jahren war er der perfekte künftige Spielkamerad für seiner Herrin Kind.

Auf jeden Fall schien ihm jede Minute, die er hier in der Unterrichtshalle verbringen musste, wie eine kleine Folter.

Kosteras lächelte ein wenig, wobei die dunkle, tiefviolette Haut seines Gesichtes sich in einen Vorhang aus Falten legte, bewegt wie ein tiefer Teich, in den man einen Kieselstein geworfen hat.

"Das Yshnaz-Ritual sagst du?" Kosteras' Lächeln wurde noch etwas breiter. Schüler von sieben Jahren wussten im Allgemeinen noch sehr wenig oder gar nichts über dieses Ritual. "Dann sei dir deine Unaufmerksamkeit verziehen. Die Ehre der d'Huurya bleibt auch gewahrt, wenn du ihre Geschichte ein andermal hörst. Wir wollen für heute den Unterricht beenden."

In einer beinahe synchronen Bewegung erhoben sich nun die zwölf anderen jungen Schüler, verschränkten die Arme und beugten den Kopf. "Mentor Kosteras, wir danken euch für eure Unterweisungen!" schallte es aus dreizehn kleinen Kehlen, und in den Respekt und Ernst der hohen Stimmen mischte sich die Freude darüber, endlich entlassen zu sein.

Wie ein aufgeschreckter Entenschwarm stoben sie auseinander, laut schwatzend und lachend. Nur Vamliz blieb stehen wo er war, warf Lenya, die als letzte hinter der grossen Säule vor dem Eingang verschwand einen kurzen Blick nach. Er hatte ihr weisses Gesicht, ihre bleichen Hände, ihren hellen Hals schon tausendmal gesehen – und noch immer musste er sich immer wieder versichern, dass sie wirklich so aussah...

Wenige Augenblicke später befanden sich nur noch Vamliz und Kosteras in der Unterrichtshalle. Nachdem die Rufe der sich rasch entfernenden Wasser-Schüler verebbt waren störten nur noch das leise Knistern des Feuers und das dumpfe Pfeifen des Windes die Stille der Nacht.

Golden ergoss sich das Licht der Flammen über den weiss-blauen Marmorstein, in den Nischen und an der Decke des hohen Raumes ballten sich die Schatten. Die vier kleinen Feuer flackerten in ihren eisernen Schalen, ihr Feuerschein tanzte geheimnissvolle Schemen auf die Wände, aber gegen die sich ausbreitende Dunkelheit konnte er kaum etwas ausrichten.

Verlegen blickte Vamliz zu Boden. Natürlich hatte er ungeduldig darauf gewartet, dass der Unterricht beendet werde. Aber von seinem Mentoren wollte er sich eigentlich noch nicht verabschieden. Irgendwie musste er in Erfahrung bringen, wie das Yshnaz-Ritual ablief... und wenn ihm überhaupt jemand antworten würde, dann Mentor Kosteras. Er war einer der wenigen, die sich freuten, wenn Vamliz eine Frage stellte.

Kosteras setzte sich mit einem leisen Husten auf den Sockel der bronzenen Statue hinter ihm und sah Vamliz aufmunternd in die Augen.

"Vamliz? Möchtest du eine Frage stellen? Sei versichert: ich bin zwar nur dein Geschichts-Mentor, doch kenne ich mich auch in anderen Dingen ein wenig aus."

"Mentor Kosteras... alle in meinem Palast – ", begann Vamliz schliesslich, doch er stockte erschrocken, als die Worte "meinem Palast" über seine Zunge kamen. "Ich meine, im Palast meines Herrren, da sprechen alle davon, von dem Ritual meine ich..."

Mit der rechten Hand griff sich Vamliz über den Kopf hinweg an die Spitze seines linken Ohres, wie er es oft tat, wenn er in Verlegenheit war. Er begann, eifrig daran herumzufingern.

"Und da wollte ich wissen... wie lange dauert es? Und... ist es gefährlich? Ich meine..." Wieder brach er schluckend mitten im Satz ab.

Kosteras wurde plötzlich von einem dieser Hustenanfälle durchschüttelt, die ihn in letzter Zeit so oft überfielen. Seine knochigen Schultern hüpften unter dem Gewand auf und ab. Rasselnd und schwer ging sein Atem, als er sich wieder Vamliz zuwandte: "Vamliz, ich will dir das Ritual erklären, so dass du selbst darüber entscheiden magst, ob es gefährlich ist und wie lange es dauert. Und damit du auch alle anderen Fragen beantworten kannst, die dich nun wohl seit Tagen martern."

Sein Blick wurde für einen Augenblick streng und unzufrieden, als er mit einem schnellen Schlag Vamliz' rechte Hand von dessen linkem Ohr wegwischte.

"Dir als Schüler der Wasser-Kaste gebührt es kaum, dich gedankenlos am Ohr zu kratzen! Daz rath' in ou men Zarthu – dein Geist sei der Bogen, dein Körper nur Pfeil!"

Kosteras hätte den alten Lehrsatz nicht aus der Schriftsprache zu übersetzen brauchen, Vamliz kannte ihn in- und auswendig – schliesslich hörte er ihn fast täglich von seinem Vater oder seinen Mentoren. Wer wie Vamliz zur Kaste der Kontrolle und Lehre gehörte, begegnete diesem Lehrsatz andauernd. Aber im Moment wollte er Kosteras auf keinen Fall reizen, also nickte er nur rasch. "Entschuldigt, Mentor Kosteras! Bitte erzählt mir vom Ritual!"

Kosteras räusperte sich mit einer beinahe etwas verlegen wirkenden Geste und steckte seine feingliedrigen Hände in die weiten Ärmel seiner Robe. Auch Vamliz bemerkte nun, dass es ungewöhnlich kühl geworden war. Die Feuer in den Unterrichtshallen spendeten meist auch im Winter genug Wärme, aber wenn wie heute heftiger Wind die Kälte durch die Fenster blies, konnte es sehr unangenehm werden.

"Entschuldige einen alten Elfen dessen Knochen nur noch wenig aushalten mögen, Vamliz, aber wir sollten irgendwo hingehen, wo ein richtiges Feuer brennt und der Schnee uns nicht durch ein Fenster um die Nase wirbeln kann."

Vamliz musste kurz daran denken, dass sein Mentor seinen Körper wohl selbst nicht ganz so unter Kontrolle hatte wie es der eben zitierte Lehrsatz eigentlich forderte. Aber obwohl Vamliz oft zur falschen Zeit die falschen Dinge sagte, erwähnte er diese Überlegung mit keinem Wort. Nicht jetzt, wo es um das Yshnaz-Ritual ging...

Ohne ein weiteres Wort erhob sich Kosteras und wandte seine erstaunlich schnellen Schritte in die Richtung, in der das Meditationszimmer der Mentoren lag. Eilig löschte Vamliz die vier Feuer, indem er die breiten Bronzetrichter darüberstülpte. Dann lief er hastig dem Mentor nach, der eben durch das Pfortal auf den hohen, dunkeln Gang hinaustrat.

Die Unterrichtshallen für die Schüler des Wassers, der Kontrolle und Lehre, befand sich in einem Seitentrakt des riesigen Hauptgebäudes der Hallen der Mentoren. In ihrer Nähe lagen das Meditationszimmer der Mentoren, ein kleiner Tempel, der Speisesaal der Schüler und die grosse Terrasse, in deren Mitte aus einem schlanken Brunnen aus Korallengestein im Sommer Tag und Nacht das klare, kühle Nass einer nahen Quelle sprudelte.

Verbunden war dieser Seitentrakt mit dem Rest der Hallen durch einen langen Säulengang. Eine Wand bildete das blau-graue Felsgestein des Berges, unbehauen und kantig, während die andere Wand aus rosa Marmor bestand, die mit Wellen-Mosaiken aus blauem Gestein verziert war. Alle zwei Schritte wurde diese Wand von einem grossen, in zwei Meter Höhe in einen Halbkreis auslaufenden Fenster unterbrochen.

Die Fenster lagen zu Vamliz' Rechten als er und sein Mentor zum Meditationszimmer gingen. Wären die beiden nicht so zielstrebig durch den Gang geschritten, dann hätte ihnen ein Blick aus einem dieser Fenster eine atemberaubende Sicht geboten; Weit über ihren Köpfen, weit über Omoy, weit über dem Berg Ifin selbst thronte die ferne Kuppel des Himmels. Eine dunkle Wolkendecke wölbte sich dort, aber an unzähligen Stellen hatten die Winde Löcher ausgerissen, durch die nun hell die Sterne funkelten.

Auch tief unter der Stadt, am Fusse des Berges und an vielen Stellen überall in den Tälern und Hügeln, die von hier aus bis zum Horizont reichten, blinkten kleine Lichter, als wollten sie ihren grossen Brüdern, den Sternen, eine Antwort schicken – die Feuerstellen der Nomadencamps umherziehender Menschen.

Dazwischen grosse Gebiete aus schwarzblauen Schatten, schemenhaft. Wälder, Hügel, Seen, nicht genau erkennbar. Sie sahen aus wie riesige, schlafende Tiere. Und überall die vom Wind dahingerissenen Schneemassen, tanzend, gleitend, in Schwärmen umherwirbelnd und die Welt immer mehr unter frischem Weiss zudeckend.

Wirklich, die Nacht war so schön und wild zugleich, dass manch ein spät Wachender sich unwillkürlich fragte, ob in ihr nicht Grosses geschehen müsste.

An den Hängen des Berges schliesslich die Stadt Omyo selbst; Hunderte von Palästen mit tausend Türmen, untereinander verbunden durch weitere tausend Gänge und Treppen und einer unzählbaren Menge von Brücken. Sie spannten sich, schmal und beinahe zerbrechlich, mit elegantem Schwung über Risse im Berg, die oft hunderte von Metern in die Tiefe führten. Manche Brücken führten auch über kleinere Gebäude oder sogar über andere Brücken hinweg, sie waren miteinander verbunden und durchkreuzten sich.

Und doch sah Omoy ganz und gar nicht so aus, als wäre es im Laufe der Jahrhunderte wirr und ohne Plan erbaut worden. Im Gegenteil, die an jeder Terrasse, jeder Brücke und jedem Balkon schlicht, aber kunstvoll verzierte Stadt schien wie aus dem Felsen herausgewachsen zu sein.

Vamliz hatte sein ganzes bisheriges Leben in Omoy verbracht, weshalb er wenig Interesse daran hatte, sich jetzt aus einem Fenster in den kalten Sturm dahinter zu lehnen und den ihm so wohlbekannten Anblick zu geniessen. Seine Neugier, endlich mehr über das Yshanz-Ritual zu erfahren, war inzwischen so gross, dass er beinahe durch den dunklen Korridor gerannt wäre - er überholte Kosteras auf dem Weg zum Meditationszimmer beinahe – was natürlich eine unerhörte Respektlosigkeit eines Wasserschülers gegenüber seinem Mentoren gewesen wäre.

Er bemerkte seinen Fehler jedoch einen Augenblick bevor er ihn überhaupt begehen konnte, blieb kurz stehen und ging dann, wieder ein paar Schritte hinter Kosteras, in einen etwas gemächlicheren Tempo die restlichen paar Meter. Bis zu dem kleinen Durchgang, hinter dessen meerblauen Vorhang das Zimmer lag, in dem die Mentoren sich vor dem Unterricht vorbereiteten und nach dem Unterricht meditierten.

Kosteras schlug den schweren Stoff des Vorhanges ein wenig zurück und winkte seinen Schüler mit einem ermutigendem Lächeln in den dahinterliegenden Raum. Schüler betraten diesen Raum nur selten, wenn sie etwa einen Botengang für einen der Mentoren zu erledigen hatten, oder die Feuerstelle gereinigt werden musste. Normalerweise stellte der Vorhang eine unüberwindbare Grenze dar. Noch während Vamliz dies durch den Kopf ging schien es seinem Mentoren nun wirklich zu kalt zu werden. Kosteras schob den zögernden Schüler mit sanfter, aber überraschend entschlossener Gewalt die letzten paar Schritte hinein in das helle, angenehm warme Meditationszimmer.

In die Mitte des Bodens war eine eiserne Feuerschale eingelassen, die denen im Unterrichtszimmer ähnelte, aber viel grösser war. In ihr loderte Tag und Nacht ein schmächtiges, aber kräftiges Feuer, gespeist von einem stark nach Honig und Harz riechendem Öl, mit welchem man alle drei Tage die Schale nachfüllen musste. Das Meditationszimmer selbst schien fast nur eine Weiterführung dieser Feuerschale zu sein; Auch es war rund, leicht unten gewölbt und vollkommen eben. Und sehr schlicht: abgesehen von vier langen, schmalen Eisenpfosten, die in Form von Eulen gewirkt waren, war das Meditationszimmer vollkommen leer.

Von der einen Seite zur anderen mass es wohl kaum vier grössere Schritte, zwischen dem Feuer und der Wand war also kaum Platz. Das ganze Zimmer war aus dem Berg hinausgehauen worden, wobei die Erbauer überall an der Wand auf Kniehöhe eine Ausbuchtung ausgelassen hatten, so dass es nun von einer steinernen Bank gesäumt war. Einige die Wand durchziehende grüne und weisse Kristalladern und der künstliche Boden aus hellrotem Marmor durchbrachen das kalte Blau und Grau des Felsens.

Kosteras Lippen entfloh ein zufriedener Seufzer, als der Mentor sich neben dem Eingang auf die Bank niederliess. Die Wärme hatte offensichtlich schon ein wenig Wirkung gezeigt, der Alte zog sich sogar seinen kuppelförmigen, mit kleinen Elfenbeinschnitzereien geschmückten Hut vom Kopf und legte ihn vorsichtig neben sich. Anders als viele der Mentoren besass er noch eine starke Haarpracht, ein langer Zopf aus silbergrauen Haaren hing ihm weit über die nach unten geschlagene Kapuze und bildete in seiner geschmeidigen Helligkeit einen starken Kontrast zu seiner schwarzen, runzligen Haut.

Beim Anblick des Alten bemerkte Vamliz, dass dieser auf eine eigenartige Weise schöner war als die meisten anderen Elfen, die er kannte.

Mit grimmiger Entschlossenheit setzte sich der Junge nun neben Kosteras auf die Bank, und endlich siegte seine Ungeduld über seine Unsicherheit: "Mentor Kosteras, bitte erzählt mir jetzt vom Ritual... vom Yshnaz-Ritual!"

Da setzte Kosteras eine fast übertrieben ernste Miene auf, von der alle Schüler wussten, dass ihr meist ein ausführlicher Vortrag über irgend ein wichtiges Thema folgte. Erwartungsvoll blickte Vamliz den alten Mentoren aus seinen braunen, weit geöffneten Augen an.

*

Sanft strich Hanaya d'Huuva über den weichen, flauschigen Kopf ihrer schneeweissen Begleiterin. Der mehrstündige Flug hätte das Reittier eigentlich nicht wirklich zu erschöpfen vermocht – wie alle gesunden, erwachsenen Gandarvas konnte auch dasjenige Hanayas beinahe einen ganzen Tag pausenlos unterwegs sein, wenn es dabei oft genug getränkt wurde. Doch der Schneesturm hatte sowohl Reittier wie auch Reiterin ans Ende ihrer Kräfte gebracht, beide troffen sie vor Nässe.

Könnte ich mich doch gleich hier zu Boden fallen lassen... und alles wäre nur ein böser Traum...

Glücklicherweise erstreckte sich der tobende Sturm nicht bis über den Wald – im Gegenteil, um Hanaya herrschte eine beinahe unheimliche Stille. Noch nie hatte sie sich als besonder tapfer ausgezeichnet, auch wenn sie fest nach den Lehren der Feuer-Kaste zu leben versuchte. Aber sie konnte sich keinen Ort vorstellen, den sie mit ihrem Gandarva an ihrer Seite nicht furchtlos ausgesucht hatte. Immer wieder stellte sie fest, dass sie vielen Elfen weniger vertrauen konnte als diesem Tier.

Sein Name war Roh'Ziande, was in der Schriftsprache "Himmelsläuferin" bedeutete, doch Hanaya rief es kurz "Zian". Das Gandarva liess den langen, schmalen Hals in einem eleganten Bogen nach unten hängen. Sorgfältig putzte es sich mit der schnabelartigen Ausbuchtung, in die sein ovaler Kopf auslief, die etwas aufgeplusterte Brust.

Obwohl Zian sich ganz auf dieses Putzritual zu konzentrieren schien, wusste Hanaya, dass ihr Gandarva es genoss, von seiner Herrin nach einem Flug ein wenig liebkost zu werden. Sie merkte es daran, dass ein leises, zufriedenes Murmeln von Zians Kehle ausging – ein Geräusch, das dem Gurren einer Katze sehr ähnlich war.

Nachdem das Tier sich kräftig trockengeschüttelt und auch die Federschuppen unter beiden Flügeln gesäubert hatte, was Hanaya die Gelegenheit gegeben hatte, ihrem Gandarva das Geschirr etwas zu lockern, blickten die beiden sich fast im selben Moment zum ersten Mal seitdem sie gelandet waren richtig um.

Sie standen auf einem flachen Felsen, der ihnen gerade genug Platz bot, sich um die eigene Achse zu drehen. Der Felsen selbst befand sich inmitten eines Baches. Das unter einer dünnen, im Sternenlicht schwach glitzernden Eiskruste leise dahinplötschernde Wasser entschwand in beide Richtungen nach wenigen Metern Hanayas Blick – in die undurchdringliche Dunkelheit des Waldes.

Der Silwan-Wald, der sich zu Füssen des Berges Ifin viele Meilen nach Norden erstreckte, war so alt und so dicht, dass es in ihm etwas wie eine Lichtung eigentlich nicht gab. Nur das glückliche Zusammenspiel von Fels und Bach hatte es vermocht, eine kleine Öffnung in das Geflecht aus den breiten, sich weit in die Höhe streckenden Errs-Bäumen zu schlagen, in der Hanaya dank der überdurchschnittlichen Geschicklichkeit ihres Gandarvas gelandet war.

Viele Meter über ihr konnte sie nun gerade noch einen kleinen Kreisausschnitt des mit Sternperlen bestickten Himmelszeltes sehen, um sich herum aber nichts als eine schwarz-weisse Wand aus Schnee und sie stumm anstarrenden, jahrzehnte- und jahrhundertealten Baumstämmen und dazwischengewebten Sträuchern und Büschen.

Zian liess den Kopf gewandt in alle Richtungen kreisen und schaute dann zurück zu ihrer Herrin. Der tiefe Blick ihrer leuchtend grünen Augen traf den Hanayas, und es schien der Elfin für einen Moment, als ob ihr Gandarva hinter all der tierischen Ungewissheit und dem instinktiven Gehorsam eine Intelligenz besass, die ihre eigene vielleicht weit überstieg.

Sie hatte dieses Gefühl schon oft gehabt, wenn sie Zian – oder einem anderen Gandarva – in die Augen geblickt hatte. Doch jedesmal war ihr Gegenüber schliesslich doch ein Tier geblieben, wenn auch besonders wundervolles; Ein Mittelding zwischen Schwan und Pferd, mit der Grazie eines elfischen Erd-Tänzers und den Instinkten einer Katze.

Auch um das dichte Federkleid war Zian im Moment zu beneiden, denn die Luft war beissend kalt. Zwar waren die Schneider und Schuster Omoys sehr gewandt darin, dicke Mäntel und Stiefel anzufertigen, doch es drangen noch immer Schnee und Frost an Hanayas Haut. Sie versuchte, den vereisten Pelzkragen noch etwas höher zu zerren. Ich darf nicht schon jetzt ans Aufgeben denken!

Aus der Art, wie sich ihr Gandarva so ruhig getrocknet und umgeschaut hatte, schloss Hanaya, dass an diesem Ort und in diesem Moment keine Gefahr drohte. Diese Gelassenheit Roh'Ziandes war auch für Hanaya beruhigend, denn sie wusste, dass ihr Reittier eine bessere Nase und bessere Augen und Ohren hatte als sie selbst.

Was auch immer also für Wesen in dieser Nacht durch den Silwan-Wald streiften – und Hanaya wusste, dass darunter viele waren, denen sie nur ungerne begegnen würde – sie hielten sich zur Zeit nicht in der unmittelbaren Umgebung auf.

Mit diesem Wissen machte sich die Fürstin Hanaya d'Huuva auf den Weg in die Wirrnis des Waldes, nicht ohne vorher ihrem Gandarva einige aufmunternde Wort zugeflüstert zu haben. Und nicht ohne vorher liebevoll ihren eigenen, stark gewölbten Bauch gestreichelt zu haben, in dem ihr noch ungeborenes Kind darauf wartete, das erste Mal den kalten Wind der Welt um seine Ohren ziehen zu spüren.

*

"... worauf Meloy mit seiner in die fernsten Winkel der Stadt reichenden Stimme die Wahrheit so rein und tief aussprach, dass manch' einer unter den Zuhörern noch viele Jahre später spüren konnte, wie sie sein Herz für immer in Schwingung gebracht hatte. Denn Meloy sagte: ..."

In jeder anderen Nacht hätte Vamliz sich gewünscht, sein Mentor möge ihm bis zum Morgengrauen und darüber hinaus von der Geschichte des Elfenvolkes erzählen, davon, wie das Yshnaz-Ritual entstanden und wie es umkämpft worden war. Aber nicht in dieser Nacht, nicht jetzt, wo er wusste, dass seine Fürstin eben dieses Ritual gerade vollbrachte.

Vamliz fragte sich, ob das Ritual wohl so gefährlich war, wie er aus einigen Gesprächsfetzen, die er in den letzten Tagen erhascht hatte, heraushören zu können glaubte. Niemand hatte offen mit ihm darüber gesprochen, er war wie immer als dummer Junge immer dann weggeschickt worden, wenn die Gespräche interessant zu werden versprachen.

Vamliz drehte den Kopf schnell zum Ausgang des Meditationszimmers – aber der dunkle, blaue Vorhang versperrte ihm die Sicht auf den Gang und auf den stürmischen Nachthimmel dahinter. Auf den Himmel, unter dem irgendwo seine Fürstin in diesem Moment irgend etwas tat. Die Frage war nur: Was tat sie?

Als Vamliz gedankenversunken seinen Blick wieder zum Feuer in der Mitte des Zimmers richtete, bemerkte er, dass Kosteras mit seiner Erzählung, der der junge Schüler schon seit einer Weile nicht mehr richtig zugehört hatte, zu Ende gekommen war. Erschrocken schaute er zu seinem Mentoren hinauf.

"Vamliz, du machst deiner Kaste wahrlich keine Ehre," sagte Kosteras, und neben der Verärgerung lag auch ein Hauch heimliches Vergnügen in diesen tadelnden Worten.

Natürlich war Vamliz nicht genug kühlen Kopfes, dass er dies bemerkt hätte. Verwirrt stammelte er los: "Entschuldigt, Mentor Kosteras. Mein... Meine Kontrolle ist schwach, aber... wenn ihr mir nur sagen würdet..."

"Ja, deine Kontrolle ist ungenügend. Aber die Umstände sind wirklich etwas aussergewöhnlich. Du möchtest also eine zusammenfassende, eine kurze Erklärung des Yshnaz-Rituals?" Kosteras, der für einige Sekunden wieder von einem Hustenanfall geschüttelt wurde, fand wohl selbst die Aussicht auf ein baldiges Ende dieser speziellen Lektion ziemlich verlockend. Mitternacht war nun schon eine Weile vorbei, und immer wieder drang ein besonders hartnäckiger Windstoss, der seinen Weg durch den Gang gefunden hatte, am Vorhang vorbei in das Zimmer und strich den beiden über die dunkle Haut. Kurze Schauer liefen ihnen dann über Arme und Beine, erinnerten sie an die eisige Höhe der Bergwand, an der die Stadt Omoy über dem tiefen Land thronte.

Auf Kosteras' Frage antwortete Vamliz mit einem eifrigen Nicken; "Ja, Mentor, bitte erzählt mir einfach, was genau jetzt mit meiner Herrin geschieht! ... Ist sie in Gefahr?"

Der alte Kosteras rückte noch einmal ein bisschen auf der Bank hin und her, als wollte er die letzten Bedenken, nur eine abgekürzte Version seiner Lehren zu erzählen, von sich schütteln. Er überlegte kurz und stellte Vamliz eine weitere Frage:

"Vamliz, wie du weißt, unterscheiden sich viele Rituale, je nachdem, in welcher Kaste sie durchgeführt werden. Die Fürstin Hanaya d'Huuva gehört zu der Feuer-Kaste, was ich dir also heute über das Yshnaz-Ritual sagen werde, gilt nicht für unsere, sondern für ihre Kaste. Verstehst du das?"

Vamliz nickte gebannt. "Ja, Mentor Kosteras."

Die Feuer-Kaste, die Kaste der Kraft und des Geschickes, hatte ihn immer besonders fasziniert. Denn obwohl die Angehörigen der Wasser-Kaste diejenigen waren, die die zahlreichsten Erzählungen und die genauesten Chroniken des Elfenvolkes bewahrten und weitergaben, waren die Akteure in diesen Geschichten meist Angehörige der Feuer-Kaste. Jäger. Krieger. Helden.

Kosteras begann: "Anders als die Angehörigen unserer Kaste bestimmen die Feuer-Elfinnen nicht selbst, wann sie ein Kind bekommen wollen. Sie lassen..."

Der Alte runzelte plötzlich die Stirn, kniff grübelnd die Augen zusammen. Dann fuhr er fort: "Nun, sie lassen das Schicksal darüber entscheiden.

Und wenn sie spüren, dass die Zeit gekommen ist, so verbringen sie das Jahr ihrer Schwangerschaft genau so, wie sie auch das Jahr zuvor und das Jahr vor diesem verbracht haben. Sie unterlassen nichts, was sie vorher gemacht haben, und sie tun nichts, was sie vorher nicht gemacht haben.

In der Nacht, in der die Geburt schliesslich stattfindet, vollbringen sie das Yshnaz-Ritual der Feuer-Kaste...."

Kosteras machte eine kurze Pause, wärmte sich die Hände am Feuer und lehnte sich zurück. Vamliz versuchte, die Zeit zu überbrücken, indem er mit den Augen der dünnen, sich kräuselnden Rauchsäule folgte, die von der Feuerschale wie mit Pinselstrich gemalt nach oben zog, dort in einem kleinen Loch in der Decke verschwand. Er stellte sich vor, der Rauch wäre der Faden seiner Geduld. Und wie der Rauch würde der Faden nicht brechen, bevor das Feuer verlosch.

Und noch bevor Vamliz eine Idee hatte, was in diesem Vergleich der Gegenpart des Feuers sein musste, fuhr sein Mentor weiter: "Die schwangere Elfin entfernt sich in dieser Nacht von der Stadt, lässt alle Paläste, Brücken und Strassen hinter sich und sucht die Einsamkeit, irgendwo da draussen. In Omoy gehen die meisten Elfinnen weit hinunter, in den Silwa-Wald. Bis dorthin reiten sie ein Gandarva, dann aber gehen sie zu Fuss weiter."

Vamliz' Augen wurden mit jedem Wort aus Kosteras' Mund ein wenig weiter, als wolle er den Urheber dieser beeindruckenden Schilderung damit umgreifen und verschlingen. In den Wald! Zu Fuss! Vamliz hatte oft erwachsene Elfen über den Wald, über das tiefe Land sprechen hören. Und immer hatte er in ihren Stimmen Verunsicherung, manchmal Verachtung bemerkt.

Dort unten lebten die Menschen... Barbarische Wesen ohne Kultur, ohne Moral. Und in den Wäldern und Sümpfen lebten Wesen, deren Anblick alleine angeblich genügte, um... Vamliz geriet plötzlich in Angst, er vergass sogar, seinen Mentor richtig anzusprechen: "Kosteras, die Wälder und das tiefe Land sind doch gefährlich! Ist die Fürstin wirklich dort unten?"

Der alte Mentor lächelte ihn gütig an: "Vamliz, so schön und wichtig es ist, dass du gerne Geschichten hörst, du solltest doch nicht alles glauben, was man dir erzählt. In den letzten Jahren hatte unser Volk sehr wenig Kontakt zum tiefen Land, deshalb sind viele Elfen unsicher und etwas verängstigt.

Eigentlich es ist dort unten nicht viel anders als hier..." Kosteras verstummte für einen Moment. Ins Feuer starrend schien er irgend einem Gedanken nachzugehen, einer Erinnerung. Dann murmelte er: "... auch bei den Menschen nicht."

Vamliz war überrascht. Er hatte noch kaum je ein gutes Wort über das tiefe Land gehört, und erst recht nicht über die Menschen. Und nun schien es, als ob der weiseste Elf, den er kannte, diese Menschen gar nicht als Ungeheuer betrachtete...

Die nun hereinfallende Stille währte eine ganze Weile. Vamliz hörte, dass der Sturm langsam leiser wurde. Er zog sich wohl für diese Nacht in die Höhe zurück und gönnte den Bewohnern Omoys ein wenig Ruhe. Aber Vamliz war mit seinen sieben Jahren alt genug, um zu wissen, dass Wind und Wetter so weit über dem tiefen Land einen Kampf mit Schluchten und Graten des Berges führte, der niemals enden konnte.

Endlich wandte sich sein Mentor wieder entschlossen vom Feuer weg und sprach weiter, als wäre er gar nie vom ursprünglichen Thema abgekommen: "Die schwangere Elfin geht also zu Fuss durch den Wald, oder in die Berge, oder durch die Steppe – wichtig ist, dass sie alleine ist und weit weg von allen Behausungen und Strassen. Wie lange die Elfin nun unterwegs ist, das kann man vorher nicht sagen. Manche gehen nur ein paar Schritte weit, andere ein paar Stunden, mitunter kann der Marsch bis zum Morgen und weit in den folgenden Tag hinein reichen.

In einer Nacht wie dieser wäre es unklug, dem Wind zu lange zu trotzen zu versuchen. Doch ich habe gehört, die Fürstin Hanaya sei eine sehr stolze Person. Wie weit sie wohl gegangen ist...?

Nun, irgendwann wird, ja muss die Elfin auf ihrem Weg auf eine Prüfung stossen. Vielleicht muss sie eine steile Wand erklettern, einen reissenden Fluss durchqueren, vielleicht erweckt sie die Aufmerksamkeit eines gefährlichen Raubtieres. Diese Prüfung, diese Gefahr muss sie meistern, wenn sie das Ritual vollenden will."

Kosteras machte wieder eine Pause, er wusste wohl, dass er seinem Schüler erst einmal Zeit geben musste, das Gesagte zu verarbeiten. Und wirklich: Vamliz hielt angespannt den Atem an.

Was Kosteras erzählt hatte, passierte in diesen Momenten mit seiner Herrin. Die ihn zwar kaum kannte, der er aber schon seit seiner Geburt indirekt diente. Er hatte von seinem Vater seit einigen Monaten sogar die Aufgabe aufgetragen bekommen, seiner Herrin Gandarva Roh'Ziande zu füttern und zu pflegen. Vamliz' Gedanken sprangen wild hin und her. Zian. Fürstin Hanaya. Das Ritual.

---

*

Rund um Hanaya streckten sich die langen, glatten Errs-Stämme bis zum weit über ihr unruhig im Wind rauschenden Blätterdach. Nur selten gelang es dem Mond einen schwachen Schimmer bis zu ihr, bis zum Boden des Waldes hinunterschicken. Immer wieder lief die sie für lange Minuten durch beinahe absolute Dunkelheit. Wenn das Licht ausreichte, um in Hanayas Gesichtsfeld die Umgebung kurz in kaltem Grau hinzuschraffieren, wirkten die Bäume um sie wie die dürren Finger einer riesigen Hand, auf deren Handfläche sie sich bewegte.

Sobald die kalte Hand sich zur Faust ballte, würde sie darin zerdrückt wie eine Fliege. Ihr rotes Blut, das durch die Ritzen der zusammengepressten Finger fliesen würde, wäre die einzige Farbe in einer Welt aus totem Grau...

Hanaya d'Huuva zwang sich, ihren Geist wieder auf die Wirklichkeit zu konzentrieren. Einfache Bäume, Blätter, Wurzeln. Sie gehörte zwar zur Feuer-Kaste und durfte, ja musste Emotionen empfinden, aber Angst gehörte nicht dazu.

Trockenes Knacken würde ertönen, wenn ihre Knochen zersplitterten...

Wie lautete ein alter Lehrsatz der Wasser-Kaste? Nicht umsonst hatte sie in letzter Zeit viele alte Schriften gelesen, sie erinnerte sich sofort; "Das Wasser fliesst so, wie das Flussbett es leitet. Die Tat geschieht so, wie der Geist sie leitet." Leise flüsterte sie sich selber zu: "Mizu, Oznum; Anme, Daz – Wasser, Flussbett; Tat, Geist."

Und obwohl ihr Herz, je weiter sie sich von ihrem Landeplatz, von der kleinen Lichtung und von Zian entfernte, in immer schneller hämmernden Rhythmus schlug, gewann sie äusserlich ihre Ruhe wieder. Behende bewegte sie sich durch das Unterholz, duckte sich durch das Dickicht und wich den überall in die Luft ragenden Wurzeln aus. Manchmal blieb sie für einige Augenblicke stehen, lauschte angestrengt.

Der Wind war stärker geworden, seitdem sie ihr Gandarva auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Das Blätterrauschen lauter. Und das Rauschen ihres rasenden Pulses. Kein anderes Geräusch drang aus der Tiefe des Waldes. Zumindest keines, das sie hören konnte. Dann ging sie weiter, darauf bedacht, selbst möglichst lautlos zu sein. Es gelang ihr gut, sie war ungewöhnlich schnell und geschickt. Das hatte seinen Grund.

Als Hanaya vor einem Jahr bemerkt hatte, dass sie ein Kind bekommen würde, hatte sie sofort darauf reagiert. Natürlich gestattete ihr die Feuer-Lehre nicht, sich aufgrund ihrer Schwangerschaft zu schonen und irgendwelche Privilegien herauszunehmen. Im Grossen und Ganzen führte sie ihr Leben weiter wie gewohnt. Aber sie hatte immer wieder die Hallen der Feuer-Mentoren besucht. Hatte ihre Kenntnisse der Selbstverteidigung vertieft, ihren Körper trainiert, die Muskeln stärker und die Glieder dehnbarer gemacht.

Früher hätte ein Elf der Feuer-Kaste es als Schande empfunden, all dies nicht sowieso regelmässig zu tun. Um das Ansehen der Feuer-Kaste aufrechtzuerhalten, hatten ihre Angehörigen früher ihr ganzes Leben lang darauf geachtet, Kraft und Geschick zu fördern. Und sie hatten dabei nicht vergessen, mitunter auch die Wasser-, Erd- und Luftmentoren aufzusuchen.

In allen vier Lehren standfest und in einer überragend zu sein. Obwohl alle Riten und Gebräuche in irgendeiner Form weitergeführt wurden, kannte Hanaya das alte Charakterideal ihres Volkes fast nur noch aus den vergilbten Chroniken. Und von einigen greisen Mentoren.

Auch sie selbst entsprach ihm nicht, doch wenigstens trauerte sie ihm nach. Deshalb war sie schon seit langem entschlossen, aus ihrer Tochter – denn als Elfin spürte Hanaya schon lange vor der Geburt, welches Geschlecht ihr Kind haben würde – eine richtige Elfin zu machen. Eine Elfin der alten Zeiten, die alle Tugenden in sich vereinte. Über die Grenzen ihres adligen Standes hinweg würde sie allen Elfen ein Beispiel sein, würde sie zurückführen zu den alten Werten. Bei diesen Gedanken verharrte Hanaya kurz, um erneut sanft ihren Bauch zu berühren.

Ihre Tochter, Yaazua d'Huuva, schlummerte dort unter dem dunkelroten Gewand. Hanaya spürte, wie ihr Kind sich rührte, als ob es auf die Liebkosung der Mutter antworten wollte.

*

" Und da war der Dreizehnte gekommen. Niemand aber, der unter der Sonne lebt, weiss, woher er gekommen war. Jeder aber, der unter der Sonne lebt, weiss, wohin er ging. "

Aus: "Die Annalen" von Zal'Ust

Dritter Band

Vor langer, sehr langer Zeit war ein Fluss durch das Tal geflossen. Ein weitgereistes Volk war zu dem Tal gelangt, müde, aber mit festem Willen. Es fand eine Stelle am Ufer des Flusses, geschützt von den Wänden des Tales, mit Leben erfüllt vom vorbeiziehenden Wasser. Dort baute das Volk seine Stadt. Zuerst mit Holz und mit Lehm; Wohnhütten. Dann mit Stein und Mörtel; Lagerhallen, Werkstätten. Dann mit Marmor, mit Gold; Tempel und Paläste. Immer wieder kam Unglück über die Stadt. Krankheiten, Krieg, Feuer. Immer wieder bauten die Bewohner der Stadt neue Häuser, Hallen, Tempel. Sie bauten sie neben, zwischen und über den Ruinen der alten Stadt. Sie bauten mit neuen Techniken, zu anderen Zwecken, mit anderen Werkzeugen und zur Verehrung anderer Götter.

Längst waren die Wandschriften der untersten Gewölbe in einer Sprache gehalten, die die Bewohner der neuen Stadt über ihnen nicht mehr verstanden. Und noch immer wurden neue Säulen errichtet. Längst hatte die Gestalt der Helden und Götter auf den zerfallenen Mosaikbildern tief unter den Katakomben nichts mehr gemein mit dem Aussehen derer, die weit über ihnen durch die neuen Strassen gingen. Und noch immer wurden neue Götter verehrt. Der Fluss floss nicht mehr. Das Tal existierte nicht mehr – die Stadt war darüber hinausgewachsen. Und noch immer wurden in der Stadt neue Kinder geboren.

Tief, tief unter der Stadt aber schlummerte die Vergangenheit...

Lange. Gewartet. Lange.

Endlich.

Wach.

*

Hanaya d'Huuva wusste, dass ihre Prüfung nun begonnen hatte. Da sie ihr Yshnaz-Ritual wie die meisten Elfinnen aus Omoy im Silwan-Wald vollbrachte, war sie darauf vorbereitet, dass ihre Prüfung in der tödlichen Form eines Raubtieres auftreten würde. Und ihre Erwartung wurde auch beinahe erfüllt. Hanaya hatte nur nicht damit gerechnet, gleich drei ausgewachsenen Zeebreui auf einmal zu begegnen.

Aber obwohl sie es nun mit drei Bedrohungen auf einmal zu tun hatte, war ein Vorteil auf ihrer Seite: das Überraschungsmoment. Sie sass tief gebückt in einem dichten Busch, dessen Bezeichnung sie nicht kannte, aber von dem sie inzwischen wusste, dass er eine Menge Dornen besass. An mehreren Stellen war Hanaya's schwarze Haut aufgekratzt, sie spürte warmes Blut über ihre linke Wange fliessen, schmeckte es im Winkel ihres Mundes.

Nur wenige Schritte von ihr entfernt, in einer kleinen Senke, hockten die drei nur schattenhaft erkennbaren Wesen. Hanaya hatte noch nie einen echten Zeebreu gesehen. Aber ihre Erinnerung an die Darstellungen in Büchern und an ein Fell, dass irgendwo im Palast in sich zusammenrottete, erlaubten ihr, auch in dem Dunkel des Waldes ohne Zweifel festzustellen, dass die drei Gestalten, die dort vor ihr schmatzende Laute von sich gaben, dieser Art angehörten.

Das laute Schmatzen, ein starker, tierischer Duft und ein vierter Schatten, der reglos und langgestreckt zwischen den drei anderen am Boden lag, deuteten darauf hin, dass die Zeebreui sich gerade an einer erlegten Beute labten. Hanaya war erstaunt, dass sie in dieser Situation noch Musse fand, ob des Aussehens der Wesen vor ihr zu staunen.

Die katzenartigen Jäger waren lang und schmal, doch ihre Körper unter dem grün-braun gestreiften Fell kräftig gebaut. Sie waren in Wirklichkeit viel eleganter als in den Darstellungen. Kleine, ovale Buckel ragten beidseits aus ihren Rücken hervor, gleich hinter den Schulterblättern. Elfische Mentoren vermuteten, dass die Zeebreui dort einmal Flügel gehabt hatten. Hanaya war froh, dass ihre Gegenüber wenigstens diesen Vorteil nicht mehr hatten.

Es war schon schlimm genug, dass der an Skorpione erinnernde lange Schwanz eines jeden der drei Wesen in einen knospenförmigen Stachel auslief. Einen Stachel voll tödlichen Giftes.

Hanaya wurde plötzlich klar, dass sie dem toten Beutetier, das gerade verschlungen wurde, ihr Leben verdankte. Wären die Zeebreui nicht mit diesem Mahl beschäftigt, würde nicht der Geruch dieses toten Körpers den ihres Schweisses und ihres Blutes überdecken, hätten sich die drei Jäger nicht zum Verzehr zusammengefunden, anstatt einzeln den Wald zu durchstreifen – dann würde nun eine Elfin dort in der Mulde liegen, eine tote Elfin.

Angestrengt dachte Hanaya an all die Stunden, die sie mit ihrer Mentorin der Jagd verbracht hatte. Arteem d'Maaya – eine aussergewöhnliche Person. Sie war über zwei Meter gross, aber es war ihre Breite, die sie wirklich von anderen unterschied. In ihren Armen und Beinen war mehr Kraft als in denen der meisten Elfenmänner, und die vielen Narben, die ihr Gesicht zierten, sprachen mehr von ihren Siegen als von ihren Niederlagen.

Omoy's Einwohner ernährten sich schon lange nicht mehr von der Jagd. Deshalb war Arteem eine der letzten Elfen, die den Wald überhaupt noch betraten. Sie jagte nicht nur zum Vergnügen, sondern auch aus Respekt. Hanaya erinnerte sich, wie ihr ihre Mentorin einmal schwer atmend nach einer anstrengenden Lektion gesagt hatte: "Ich gehe aus Respekt immer wieder in diesen Wald. Schliesslich habe ich schon so viele seiner Bewohner erlegt, dass es unfair wäre, wenn ich den restlichen nicht die Chance geben würde, sich an mir zu rächen!"

Dann hatte die Mentorin auf eine Weise gelacht, wie es nicht einmal ein männlicher Elf aus niederstem Hause tun würde. Spätestens seit damals wusste Hanaya nicht mehr richtig, wie sie mit Arteem umgehen sollte.

Vielleicht war dieser Respekt gegenüber den Tieren nur eine Form des Ehrgefühls, dass sie ihrer Tochter künftig beibringen wollte. Aber sie war eine Adlige, und obwohl sie die niederen Stände eigentlich als gleichwertig ansah, hatte sie mit deren Umgangsformen keine Erfahrung. Und Arteem benahm sich zweifellos auf eine ihres Mentorenstandes unangemessene Art. Hanaya war ihr seitdem ein wenig aus dem Weg gegangen. In ihrer momentanen Situation aber kam ihr niemand in den Sinn, den sie lieber neben sich gehabt hätte.

Ein Griff mit ihrer rechten Hand hinter ihren Rücken. Dort fühlte sie nach dem Dolch, der in ihrem Gurt steckte. Es war ein guter Dolch. Eine schwarze Klinge, hart wie hundert Felsen. Ein goldener Griff, der so geschickt geformt war, dass der Träger des Dolches sich wundern musste, ob seine Hand den Dolch ergriff oder der Dolch seine Hand.

Hanaya wusste, dass die Liste der Elfen, die diesen Dolch vor ihr besessen hatten, viele hundert Jahre in die Vergangenheit reichte. Ein Name war in alter Schrift auf der Klinge eingraviert; Er bedeutete "Blutblüte".

Mit Mühe zwang sie sich, keine weiteren Bewegungen zu machen. Sie lauerte jetzt wohl schon seit dem dritten Teil einer Stunde im Dickicht – überall in ihrem Körper schrien Gelenke protestierend auf, die sich strecken wollten. Aber der Wind war wieder abgeflacht, der Wald – abgesehen vom Schmatzen der Zeebreui und den Rufen einiger Vögel – wieder in eine trügerische Stille getaucht. Ein falsches Geräusch würde die glatte Oberfläche dieser Ruhe grob durchreissen und in Sekunden die Aufmerksamkeit der drei Raubtiere auf sich ziehen.

Das kalte Metall in ihrer Hand schien ihr plötzlich nutzlos und lächerlich. Aus ihrer Situation, Hanaya konnte diese Erkenntnis kaum länger verdrängen, gab es eigentlich keinen Ausweg. Sie konnte die drei Zeebreui nicht einfach im Kampf überwältigen – schon der Gedanke daran war absurd. Fliehen war auch undenkbar; selbst als geübte Angehörige der Feuer-Kaste konnte Hanaya nicht lautlos genug durch das Unterholz schleichen. Und wenn sie einfach weiter hier wartete, würden die Zeebreui irgendwann ihr Mahl beendet haben und sich nach weiterer Beute umsehen.

Sie würden nicht lange suchen müssen.

*

Der Stallmeister schaute zu der nahen Brücke hinüber, die sich in einem weiten, kräftigen Bogen über die unter ihr nach unten fallende Kluft spann. Omoy, die Elfenstadt, wurde nachts an vielen Stellen von Feuerschalen erhellt. Das Anwesen dagegen, auf dem der Stallmeister diente, musste sich mit dem Licht der Sterne und des Mondes begnügen.

Auf der Mitte der Brücke trafen sich die goldene Aura der flackernden Feuer und der silberne Nebel des kalten Mondscheins, flossen ineinander über. Wie der gelbe Sand von den blauen Wellen des Meeres überspült wird, so wurde auch das Licht der Feuerschalen von schwarzen Schatten verschluckt, je weiter der Stallmeister seinen Blick in Richtung des Palastes seines Herrn schweifen liess.

Plötzlich schien der warme Schimmer der restlichen Stadt sich über die Brücke hinausdehnen zu wollen; ein kleines Fünkchen bewegte sich schnell auf das Anwesen zu. Es löste sich schliesslich aus der goldenen Beleuchtung, liess die Brücke hinter sich und setzte seinen Weg in Richtung Palast alleine fort. Der Stallmeister schmunzelte: der alte Lehyoz d'Antuv war pünktlicher als der Wechsel der Jahreszeiten.

Wie eine grosses Glühwürmchen schwebte der späte Gast durch den weiten Park auf den Palast, auf die Ställe neben dem Palast zu. Obwohl der Reiter noch auf der anderen Seite des spiegelglatten Teichs war, wusste der Stallmeister schon, dass das Licht in dessen Hand nicht von einer einfachen Flamme, sondern von einer winzigen Sonnenkugel ausging.

Die meisten Angehörigen der Luft-Kaste nahmen es heutzutage nicht mehr auf sich, absolute Konzentration des Geistes zu üben, nur um ein wenig Licht herbeizuwirken. Wozu gab es Fackeln? Der Stallmeister wusste, dass Lehyoz zu dieser Frage eine ganz andere Einstellung hatte. Wenn Lehyoz einmal ausserstande wäre, sich genug zu konzentrieren um eine Feuerkugel zu wirken – was allerdings kaum denkbar war – würde er eher im Dunkeln gehen und sich Arme und Beine brechen, als zu einer Fackel zu greifen.

Zumindest hatte der Stallmeister das gehört.

Leise wiehernd stoppte Lehyoz' Gandarva seinen Lauf knapp vor des Stallmeisters Füssen. Es schaute ihn aus seinen dunkelgrünen, müden Augen durstig an, wohl wissend, das dies der Elf war, an den man sich wenden musste, wenn man hier getränkt und gefüttert werden wollte.

Der Stallmeister verschränkte seine Arme und verbeugte sich tief zur Loquar-Geste; "Mentor Lehyoz, seid willkommen. Mylord ist heute Nacht ganz besonders erpicht darauf, mit euch zu sprechen."

Lehyoz wickelte sich langsam aus dem hellen, weiss-blauen Mantel, den er sich zum Schutz gegen die kühle Nacht eng um den mageren, langen Körper gelegt hatte. Der Stallmeister hatte schon zu lange auf diesem Anwesen gedient, als dass er nun versucht hätte, dem Alten seine Hilfe anzubieten. Lehyoz legte Wert darauf, solch' alltägliche Tätigkeiten wie das Ablegen eines Mantels oder das Absteigen von einem Gandarva selbst zu bewältigen, auch wenn seine Knochen und Muskeln – ganz im Gegensatz zu seinem Geist – von Jahr zu Jahr schwächer wurden. Die Stimme des Mentors: starkund eindringlich, entschlossen und ehrlich.

"Bitte widmet Yum'va heute viel Aufmerksamkeit. Mehr noch als ich spürt er in den Nächten, wie seine Zeit viel zu schnell ein Ende nimmt."

"Mentor, ich will mein Bestes tun, damit ihr und euer Gandarva noch in dreissig Jahren meinen Herrn besuchen kommt."

"Ich bin über 150 Jahre alt. In dreissig Jahren wird euch höchstens noch meine Asche um die Ohren fliegen!" Mit diesen Worten und einem kaum hörbaren Ächzen liess sich der alte Mentor endlich auf den Boden rutschen. Sein aufgebauschter Mantel senkte sich nur langsam, wie die Flügel einer erschöpften Taube.

Während der Stallmeister dem Gandarva die Flügelgurte abnahm – wollte man mit einem Gandarva am Boden reiten, so band man ihm die Flügel am Körper fest – schaute er sich nachdenklich das Gesicht Lehyoz' an. Die Flammenkugel schwebte noch immer nur eine Armeslänge vom alten Mentoren entfernt, erhellte die eine Hälfte seines blauvioletten Gesichtes, nur um die andere in um so tieferes Dunkel zu tauchen. Fast glaubte der Stallmeister, darin erkennen zu können, wie eine Schlacht gefochten wurde.

Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wandte Lehyoz sich um und ging langsamen, aber sicheren Schrittes auf den Eingang des Palastes zu. Die Flammenkugel folgte ihm dabei, warf merkwürdigen Lichtschein und noch merkwürdigere Schatten durch den ganzen Hof.

Zu dem Knirschen von Lehyoz' Schritten auf den Kieselsteinen und dem Gurren seines Gandarvas Yum'va gesellte sich nach wenigen Augenblicken ein fröhlich-trauriges Lied, dass der Stallmeister im Halbdunkel vor sich hinzupfeiffen begann. Aber wie ging nochmal der Text?

*

Ein wütendes Knurren echote durch die fahle Finsternis des Waldes, als zwei der Zeebreui begannen, sich um einen Fleischbrocken zu zanken. Hanaya wusste, was das für sie bedeutete: Ihre Zeit war fast abgelaufen. Die Beute musste beinahe verzehrt sein, wenn die Räuber schon um die Reste kämpften. Und wenn sie verzehrt war, würden die Räuber sich wieder auf die Jagd machen.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich schnell in ihr aus wie Blut in klarem Wasser; eine alles umgreifende, alles verdeckende Wolke. Kalte Todesangst umgriff ihre Kehle und liess sie um Atmen ringen. Du gehörst zur Feuer-Kaste! Ein Mitglied der d'Huuva! Angst ist dir fremd – du bist stärker als...

... als drei Zeebreui? Nein.

Aber vielleicht gab es wirklich einen Ausweg, irgendweine Möglichkeit zur Flucht – und sie könnte sie nur in ihrer wachsenden Panik nicht entdecken! In wenigen Minuten würden Hanaya und Yaazua, ihre noch ungeborene Tochter, von den Fängen der drei Räuber in Fetzen gerissen werden; Obwohl es vielleich noch eine Chance gab! Irgendeine Jagdtechnik, vielleicht etwas ganz Offensichtliches... Bitte!

Und da erinnerte sich Hanaya an einen der ältesten Tricks der Welt. Die Zeebreui kannten ihn zwar bestimmt nicht, aber dennoch war er so simpel, dass Hanaya keinen Moment daran glaubte, dass er funktionieren würde. Aber sie war eine Mutter, sie hatte ein Kind zu beschützen. Egal wie. Also würde sie es versuchen.

Der dritte Zeebreu hatte das letzte ihm verbleibende Stück der Beute verschlungen, was jetzt noch in dem Trümmerhaufen aus Knochen und aufgeplatzten Innereien herumlag, interessierte ihn nicht mehr. Unruhig begann er den Kopf hin- und her zu schwenken. Sein giftiger Schwanz wippte leicht auf und ab. Als er ein-, zweimal seine Schnauze in die Richtung Hanayas gerichtet hatte, drang ein tiefes, mürrisches Gurgeln aus seinem breiten Hals.

Sich kurz versichernd, dass seine beiden Artgenossen noch immer ihren Streit ausfochten, setzte er sich langsam in Bewegung. Die nächste Beute könnte vielleicht ihm alleine gehören.

Schnell führte Hanaya ihre linke Hand zum feuchten Waldboden, fand sofort einen kleinen, abgebrochenen Ast. Nachzudenken war ein Luxus, den sie sich jetzt nicht mehr erlauben konnte. Schweiss rann ihr in die Augen, noch undeutlicher sah sie nun ihren Henker auf weichen Pfoten vorsichtig suchend in ein Dickicht schlendern, wenige Meter von ihr entfernt. Die Augen des Zeebreu waren golden – das hatte Hanaya nicht mehr gewusst. Wunderschön.

Schneller als erwartet bemerkten jetzt auch die beiden anderen Räuber, dass der dritte etwas entdeckt hatte. Ihrem sicheren Jagdinstinkt folgend teilten sie sich auf und schlichen sich aus der Senke in Richtung der Büsche. Keiner der Zeebreui ging genau auf Hanaya zu – noch war sie nicht ganz entdeckt. Vermutlich brauchten die drei zusammen aber nur Sekunden, um die gesamte Umgebung zu durchkämmen. Also war jetzt für Hanaya der Zeitpunkt gekommen.

Sie erlaubte sich sogar einen kleinen Schrei, als sie all ihre Kraft in ihren linken Arm fliessen liess und mit einer pfeilschnellen Bewegung den kleinen Ast in hohem Bogen über die kleine Mulde vor ihr warf, so weit wie möglich in das schattenhafte Baumlabyrinth dahinter. Der älteste Trick der Welt: Wirf etwas hinter deinen Feind, um ihn abzulenken.

Der Ast war eigentlich zu klein, um genug Gewicht für einen weiten Flug zu haben. Aber es hatte am Tag zuvor geregnet, und so war das morsche Holz durch das aufgesogene Wasser schwerer geworden. Wenn das Geräusch des Aufpralls die Zeebreui nur für eine Minuten beschäftigen würde, könnte Hanaya vielleicht genug Distanz zwischen sich und ihre Häscher bringen, um ihnen zu entkommen.

Der Ast flog, über die Überreste des zerstümmelten Beutetiers hinweg, bis zur anderen Seite der Senke, noch weiter.

Dann nicht mehr.

Es wäre eben doch zu simpel gewesen.

Das kleine Holzstück hatte sich ohne ein wahrnehmbares Geräusch zu bewirken in den herunterhängenden Ästen eines jungen Errs-Baumes verfangen. Nutzlos hing es knapp drei Meter über dem Boden, baumelte ein wenig hin und her. Als wollte es Hanaya verspotten, als wollte ihr die Welt selbst hämisch ins Ohr tuscheln: "Das Leben ist nicht ganz so einfach, verwöhntes, adliges Elfenmädchen!"

Aber darüber dachte sie nicht nach. Sie handelte nur noch. Sah aus den Augenwinkeln, dass kein Zeebreui in ihre Richtung schaute. Und lief los – auf die Vertiefung im Waldboden zu, auf den Knochenhaufen dort.

Mit zwei, drei langen Schritten war sie da. Die Anspannung kochte das Blut in ihren Adern, ihr Puls dröhnte so laut, dass Hanaya nicht wusste, ob sie durchs Unterholz wie ein Eber gekracht oder wie eine Maus gehuscht war. Es spielte auch keine Rolle. Ohne einen Blick nach den drei Jägern zu werfen liess sie sich neben das fallen, was die von ihrem Opfer nicht verzehrt hatten.

Was für ein Tier ihnen zur Beute gefallen war, konnte Hanaya nicht mehr erkennen. Gross war es gewesen, grösser als zwei der Zeebreui zusammen. Übrig waren jetzt hunderte von kurzen und längeren Knochenstücken- und Splittern, ein zur Unkenntlichkeit angekauter Kopf und ein Haufen stinkender, aufgerissener Innereien, über den schon aufgeregt die ersten Insekten herzukriechen begannen.

Hanaya legte sich flach hin und kroch so weit wie möglich unter genau diese weichen, noch warmen Gedärme und Organe. Überraschend schnell war sie von der rutschenden, dampfenden Masse aus Fleisch und Knochen fast ganz bedeckt. Für einen unendlich kurzen Moment ging ihr die Frage durch den Kopf, ob sie nicht lieber sterben als hier liegen würde. Sie erinnerte sich daran, wie sie vor einigen Tagen einen Bediensteten gerügt hatte, weil er im Innern des Palastes mit schmutzigen Stiefeln herumgegangen war. Ein verwöhntes Elfenmädchen? Vielleicht; Aber in ihrer Situation wäre es auch der Mentorin Arteem übel geworden.

Inzwischen hatte Hanaya keine Vorstellung mehr davon, was die Zeebreui gerade taten. Ihre letzte Hoffnung war, dass die Drei ihr Versteckspiel nicht bemerkt hatten und sich nun in ihrer Suche immer weiter von der Senke entfernen würden. Irgendwann könnte die sie vielleicht einen Fluchtversuch starten. Irgendwann - falls sie bis dann noch nicht ob des schwer auf sie drückenden, unglaublich übel riechenden Kadavers die Bewusstlosigkeit verloren hatte.

*

Auf dem Weg zurück zum Palast machte Vamliz halt. Mitten auf der Brücke, die das Anwesen seines Herrn mit der Stadt verband, blieb er stehen und stützte seine Arme auf das breite Geländer. Er schaute in die Schlucht hinunter – eine in der Nacht klaffende Wunde, etwas schwärzer noch als schwarz. Ein leichter Schwindel überkam ihn. Und noch immer haftete jedes Wort in seinen Ohren, das sein Mentor vor fast einer Stunde gesprochen hatte;

"Wenn die Gefahr überwunden ist, wenn das Raubtier tot und der Fluss überquert ist – dann weiss die Elfin, dass für ihr Kind die Zeit gekommen ist, die eigene Luft zu atmen."

Kosteras hatte an der Stelle erneut ein wenig gezögert. Wie alle Erwachsenen, von denen Vamliz bisher Antworten zu den Themen erhofft hatte, über die sie ihn nicht von sich aus belehrten. Aber der alte Mentor schien weniger Bedenken gekannt zu haben – oder ein zu grosses Verlangen nach seiner warmen Liege, als dass er sich von ihnen stoppen liess. Er hatte weitergesprochen.

"Wie du weißt, muss das nun Kind hinaus aus ihrem Bauch und hinein in ihren Schoss. Was auch immer aber während der eigentlichen Geburt für Probleme auftauchen, die Elfin ist auf sich alleine gestellt. " Ein kleiner Hustenanfall. Ein gequältes Schmunzeln. "Ohne allzu ausführlich zu werden: in manchen Fällen braucht die Elfin ihren Dolch auch nach dem Kampf noch."

Diesen Satz hatte Vamliz nicht genau verstanden. Nach dem Kampf? Bestimmt würde sie damit nicht eine Banya-Frucht schneiden!

"Endlich wird die Mutter ihr neugeborenes Kind in den Armen halten und, nun, seinen Hunger stillen." – vielleicht doch die Banya-Frucht? – "Dann aber beginnt der Rückweg. Die Elfin muss nun zu zwei Wesen Sorge tragen, aber sie darf jetzt auch allen Gefahren aus dem Wege gehen. Das Yshnaz-Ritual ist beendet, sobald Mutter und Kind ihr Heim durch dasselbe Portal betreten, durch den sie es Stunden, vielleicht einen ganzen Tag zuvor verlassen haben."

Und obwohl Vamliz sich noch über einige Dinge des Rituals im Unklaren gewesen war, hatte ihn zu diesem Zeitpunkt die Sorge um seine Herrin ein bisschen verlassen. Eine Gefahr hatte sie zu überwinden, aber in den letzten Monaten hatte er sie schliesslich sehr oft in den Hallen der Feuer-Mentoren gesehen, also war sie darauf vorbereitet. Und nach dieser ersten Prüfung war das Ritual ja schon fast vorbei. Vamliz hatte sich wohl umsonst sorgen gemacht.

Das waren seine Gedanken gewesen, bis Kosteras plötzlich etwas in seinen Bart gemurmelt und erneut zu Sprechen begonnen hatte:

"Das heisst, das Ritual ist zwar vorbei, aber sie hat es noch nicht bestanden! Die vielleicht schwierigste Prüfung folgt erst noch. Und dabei geht es nicht nur um die Elfin selbst, sondern um viel mehr..."

*

Nur die perlenschwarzen Augen bewegten sich in Hanayas von Schweiss und Blut beschmiertem Gesicht.

Knapp über ihren Brauen hing ein schlauchfärmiges Etwas, von dem langsam in langen Fäden weisser Schleim tropfte. Aber dieses Etwas verbarg ihr Gesicht vor den suchenden Blicken der Zeebreui. Schwer lag auf ihrem Rücken der grösste Teil der ehemals fröhlich durch den Wald stampfenden Masse von Fleisch und Körpersäften. Aber eine sich fest auf den Boden pressende Elfin war darunter gut verborgen. Zumindest vor normalen Augen, einer normalen Nase und normalen Ohren.

Aber die Zeebreui hatten keine normalen Augen – oder zumindest nicht das, was Hanaya darunter verstand. Sie sahen, hörten und witterten besser als die meisten anderen Wald- und Bergbewohner. Gut genug jedenfalls, um Hanayas kleines Versteckspiel zu durchschauen, wie sie jetzt bemerkte. Einer der drei Jäger kam geradewegs auf sie zu.

Der Gedanke daran, sich in das Schicksal zu ergeben, ist nicht Teil der Welt einer um ihr Junges kämpfenden Mutter. Sich trunken vom Blutduft und zermalmt vom Gewicht des sie umgebenden Kadavers einfach in das gläserne Nichts der Bewusstlosigkeit zu fliehen. Um nicht spüren zu müssen, wie die Fänge des Zeebreui in ihr Fleisch eindrangen. Um nicht hören zu müssen, wie sein Biss ihren Nacken zerspringen liess. Vor allem aber um nicht daran denken zu müssen, dass ihre Tochter noch einige Sekunden im toten Leib der Mutter leben würde. Diese Überlegung tilgte Hanaya aus ihrem Kopf, noch bevor sie sich richtig gebildet hatte.

Nein, wenn ihr Henker sie kriegen wollte, würde er bis zum Ende mit ihr ringen müssen. Und das war ihm vermutlich sogar lieber so, denn in den golden funkelnden Augen des nur noch wenige Schritte entfernten Zeebreui, in der Art, wie er seinen Giftstachel in die Höhe gleiten liess, erkannte Hanaya, dass er voller freudiger Erregung sich auf einen Kampf gefasst machte.

Ein Einknicken der Pfote, ein tänzerischer Schritt. Noch einer. Und so wie die Krallen aus dem grün-braunen Fell des Räubers hervorstachen, so wurde auch der Griff hanayas um ihren Dolch Blutblüte noch fester.

Kaum zwei Sekunden später hatte Hanaya den scharfen Schaft dieses Dolches bis zum Anschlag in die weiche Kehle des Jägers gerammt, der so ganz unerwartet zum Gejagden geworden war. Ein eigenartig hohes, schrilles Röcheln begleitete das hilflose Zucken, unter dem das Tier zusammenbrach.

Eigentlich hätte Hanaya mit ihrer Hand niemals die Unterseite des Halses so direkt getroffen. Eigentlich war der Zeebreui genau auf ihren Kopf zugekommen, hätte ihren Angriff also früh bemerken und ihr mit einem blitzschnellen, ruckenden Beissen den Arm ausreissen sollen. Eigentlich.

Aber Hanaya hatte, fast noch bevor ihr überhaupt die Idee dazu gekommen war, plötzlich ihre beiden Füsse so weit sie konnte nach oben geworfen. Diese kleine, nichtige Bewegung hatte sofort die Aufmerksamkeit des angespannten, auf nichts als die Jagd konzentrierten Zeebreui auf sich gezogen. Er hatte nur den Kopf ein wenig gehoben, sich nur mit drei hastigen Schritten in Position bringen wollen, den sich vermeintlich am anderen Ende der Senke befindenden Feind anzuspringen. Jetzt lag der Räuber leblos im feuchten Laub und Schmutz des Waldbodens, aus dem er gekommen und in den er jetzt zurückkehren würde.

Da nun sowieso jedes Verstecken sinnlos war, hob Hanaya ihren Kopf um sich umzuschauen. Im sternenhellen Dunkel der nahen Umgebung entdeckte sie schnell den Schattenriss eines der zwei anderen Zeebreui. Die gute Nachricht, dass ein weiterer Jäger offensichtlich bei seiner Suche nach Beute ein wenig ins Unterholz geschweift war und von den Geschehnissen in der Senke nichts mitbekommen hatte, schien Hanaya ganz unbedeutend.

Und zwar angesichts des dritten Jägers, der nun zornig fauchend mit den muskulösen Hinterbeinen zu einem weiten Sprung ansetzte, der ihn genau auf dem Rücken seines Opfers landen lassen würde. Schon zum dritten mal in dieser Nacht war der Tod also im Begriff, Hanaya mit sich zu reissen. Wieder hatte sie keine Zeit, nachzudenken. Aber das Denken wurde den Schülern der Wasser- und der Luft-Kasten beigebracht. Feuer-Schüler lernten von ihren Mentoren, wie man tötet.

*

Der Saal war so gross, dass Lehyoz zwölf weite Schritte tun musste, um vom Eintrittsportal zu Fürst Zuunaru zu gelangen. Die gewölbte, hellgraue Decke so hoch, dass jeder dieser Schritte einen leisen Nachhall durch die von Säulenreihen gesäumte Leere des Raumes hauchte.

Das Innere des Palastes war ebenso spärlich beleuchtet wie das Anwesen rundherum. Ein knisterndes Feuer nur streckte seine Lichtzungen über den Marmorboden nach den fernen Ecken des Saales. Es brannte in dem schlichten, aber mehrere Meter breiten und hohen Kamin, vor dem Zuunaru mit gekreuzten Beinen am Boden sass. Er schaute den aufschwebenden Funken nach, die, den Zenit ihres Fluges erreicht, als kleine Aschefetzen langsam wieder zu Boden sanken.

Lehyoz liess sich zur Seite des Hausherrn nieder, ein kleines Seufzen unterdrückend, dass ihm die Schmerzen in den alten Knochen fast entlockt hätten. Die langen Schatten der beiden reichten bis zur gegenüberliegenden Wand, von der aus ein Durchgang auf den Park hinausführte.

"Ich danke euch, dass ihr erneut zur Zeit gekommen seid, Mentor Lehyoz." Zuunarus Stimme war kalt, es lag darin eine kaum verborgene müde Traurigkeit. Schon seit vielen Jahren hatte niemand ihn anders sprechen hören. Aber heute spürte Lehyoz einen neuen Klang in den Worten des Fürsten; Einen nie gekannten, eisernen Willen, endlich etwas an dieser Traurigkeit zu ändern.

"Fürst Zuunaru, solange Yum'va mich noch trägt, werde ich pünktlich zu unseren Unterredungen kommen. Ihr scheint wieder viel über unsere Sache nachgedacht zu haben?"

Zum ersten Mal seit der greise Mentor den Saal betreten hatte, wandte der Hausherr ihm nun sein Gesicht zu. Es schien aus schwarzem Gestein gemeisselt, kantig und rein. Ein dünner Bart säumte das schmale, eckige Kinn. Sowohl Zuunarus Augen als auch sein Haar und der Mantel, der von seinen gebeugten Schultern zum Boden herunterhing, waren schwarz wie ein tiefer Brunnen.

Das silberne Kettchen, dass von seinem rechten Ohr zur Nase führte, reflektierte verloren das Licht des Kaminfeuers.

"Ich würde euch niemals wegen einer anderen Sache kommen lassen, Mentor. Es gibt keine andere Sache mehr."

Lehyoz strich sich mit den dürren Fingern seiner Hand über die Glatze. Er konnte die aufgewühlte Entschlossenheit seines Gegenübers verstehen. Aber er würde sie in seinem hohen Alter wohl nicht mehr im selben Masse teilen lernen.

"Fürst Zuunaru: Wie lange schon schlagen mein und euer Herz getrieben von demseben Wunsch? Vor Tagen habe ich hier mit euch gesessen, vor Wochen und vor Monaten.

Wichtig war unsere Sache immer. Doch nun scheint ihr zu vergessen, dass wir nur zwei Elfen sind in einem ganzen Volk. Ihr stimmtet mir oft zu: Wir zwei allein vermögen die Welt nicht zum Bessern zu ändern."

Ein Funkeln in Zuunarus Blick; "Ich habe mich geirrt. Wir können es nicht nur, wir müssen! Wieder und wieder gehe ich durch Omoys Strassen... Tränen netzen meine Augen, wenn sie sehen müssen, wie weit wir uns von unseren Ahnen entfernt haben!"

Lehyoz erwiderte die Rede des Hausherrn nicht. Er hörte gebannt zu und ordnete seine Gedanken; Heute spicht er anders. Noch nie klang er so entschlossen. Ist, was bisher eine hoffnungsleere Träumerei war, in ihm endlich zum festen Ernst gereift?

In schneller Bewegung sprang Zuunaru auf die Füsse und begann, beim Sprechen hin und her zu gehen; "Wie heulende Mägde beweinen wir unser Schicksal, in dieser verruchten Zeit zu leben! Wir streifen uns die Tränen vom Gesicht, wo wir uns den ehrlichen Schweiss grosser Taten aus den Augen wischen müssten!"

Mit schneller Geste warf er sich den Mantel von der Schulter, eine riesenhafte Motte, die um den den Schein der züngelnden Flammen tanzte. Der schwarze Stoff sank neben Lehyoz in sich zusammen wie ein verendendes Tier.

"Seht ihr, wie dies Feuer Funken steigen lässt? Wie diese Funken liessen wir in kalten Nächten unsere Träume erblühen und in grosse Höhen fliegen. Und wie diese Funken wurden unsere Träume wieder zu toter Asche, sobald ihr diesen Raum verlassen habt!

Was ist unser Traum? Unser Volk zu alter Ehre und Tugend zurückzuführen. Wie können wir dies erreichen? Indem wir es vereinen hinter einem Ziel, so dass es erkennen möge, wozu wir Elfen fähig und wozu wir auch verpflichtet sind. Stimmt ihr mir zu, Mentor?"

Der Luft-Mentor war alt genug, zu erkennen, dass dies keine wirkliche Frage war. Er antwortete dennoch: "So oft meine Knochen von diesem Kamin erwärmt wurden, so oft habe ich mit euch dieselben Worte gewechselt, dieselben Wünsche getauscht."

Lehyoz faltete seine Hände ineinander und schaute zurück in den golden leuchtenden Kamin. Unzählige Male war er schon diese Gedanken durchgegangen; "Doch ihr wisst auch, Fürst Zuunaru, dass es einen weiteren Weg gibt. Nicht nur ein gemeinsames Ziel könnte unser Volk zum alten Ruhme führen, sondern auch ein gemeinsames Vorbild. Ihr werdet bald – ist's nicht in dieser Nacht? – ein Vater sein. Wir wollen euer Kind lehren, ein echter Elf zu werden. In allen vier Lehren standfest und in einer überragend zu sein – Mun losaz atram, ishin bez' Undam.

Wenn wir unser Werk gut tun, werdet ihr der Vater eines Elfen, der durch seine Tugend ein Vorbild sein kann für ganz Omoy.

Und Omoy wird die glänzendste Perle unter all den Elfenstädten - die ganze Stadt schliesslich ein Vorbild sein für die übrige Welt. Und wie im Spiel der Kinder fällt ein Stein durch den Sturz des anderen, und unser Volk mag wohl in Kürze zu alter Grösse zurückfinden."

Zuunaru drehte sich dem greisen Alten zu. Er sprach schneller und erregter als zuvor: "Wäre nur ein Elf zu alten Ehren zurückgekehrt für jedes Mal, da ihr diese Worte gesagt habt, unser Problem wäre keins mehr!"

Lehyoz erhob sich langsam und vorsichtig, nicht wenige seiner Glieder durchzuckte ein kurzer Blitz des Schmerzes. Streng schaute er dann dem um Jahrzehnte jüngeren Fürsten tief in die Augen. Er würde nicht lange solche respektlosen Worte dulden. Hätte nicht ein gemeinsamer Traum ihn mit dem Hausherrn verbunden, so hätte Lehyoz den Palast in diesem Moment verlassen.

Ruhig erwiderte er: "Wählt eure Worte mit grösserer Sorgfalt, wenn ihr nicht diese grauen Wände als einzige Zuhörer haben wollt! Auch ich war einmal jünger, und Ungeduld ist mir nicht unbekannt. Wenn ihr einen schnelleren Weg wisst, so nennt ihn gleich uns spielt nicht Gog und Wolf mit mir!"

Zuunaru schmunzelte ein wenig, im rechten Mundwinkel blinkten spitze Zähne. Dennoch senkte er seine Augen und deutete eine Verbeugung an.

"Verzeiht, Mentor. Es war töricht, eure Weisheit zu verspotten. Jedoch ist es, wie ihr sagtet; Geduld habe ich lange genug geübt.

Mit jedem Wechsel des Mondes gerät ein weises Wort unserer Ahnen in Vergessenheit! Mit jedem Aufgehen der Sonne kommt ein wissensdurstiger Elf weniger in die Hallen der Mentoren! Mit jeder vergangenen Stunde bröckelt ein Stein aus den Bauwerken, die unsere Väter uns errichtet haben! Unsere Sache duldet keinen weiteren Aufschub, die Zeit entrinnt zu schnell!

Mein Kind soll durch sein stolzes Vorbild unser Volk rechtzeitig zum alten Pfad zurückführen? Dann aber muss Hanaya heut' Nacht einen Gott zur Welt bringen – nichts anderes würde genügen!"

Zuunaru schien über seine eigenen Worte erschrocken, er verstummte plötzlich. Aber noch immer war in seinem Gesicht nichts als drängende Entschlossenheit zu lesen. Er schien darauf zu warten, dass Lehyoz ihn zum Weitersprechen auffordere.

Der greise Mentor aber schaute nachdenklich zu Boden. Ohne den Blick wieder zu heben begann er dann, langsam vom Kamin wegzugehen. Er strich sich wieder über die schwarze Glatze.

Für einige Augenblicke blieb Zuunaru stehen, liess seine eben noch geballten Fäuste kraftlos in die Falten seines Gewandes sinken. Er schaute dem Mentoren nach, der auf die Terrasse hinausging.

Hat das Alter ihm neben der Kraft auch den Mut geraubt? Hanayas Kind scheint seine einzige Hoffnung zu sein - während mein Nachwuchs mir nur beweist, dass auch ich viel zu schnell alt werde. Nein! Es muss bald etwas geschehen, und ich brauche Lehyoz' Hilfe!

Eilig lief er nun dem greisen Mentoren nach, so dass sie nebeneinander den Saal verliessen und gemeinsam unter das grosse Zelt des Himmels traten. Das zaghafte Quaken eines Frosches drang kaum hörbar vom spiegelglatten Teich bis an die Ohren der zwei schweigenden Elfen.

Lehyoz durchbrach die angespannte Stille: "Fürst Zuunaru, so gut wie ihr weiss ich, dass die Lage täglich düstrer wird. Als Luft-Mentor lehre ich den jungen Schülern das Wirken durch Konzentration des Geistes.

Und wo früher ein jeder arme Diener eine Flammenkugel wirken konnte, da zündet man heute" – Lehyoz deutete mit einer Bewegung seines Armes in die Richtung der von Feuern erhellten Stadt – "lieber Fackeln an. Das Wirken wird nur noch gebraucht, um unsere Speisekammern zu füllen – was wiederum zur Wirkung hat, dass die Jagd bald eine vergessene Kunst sein wird!

Ich gehe durch die Strassen Omoys und sehe kein Volk, sondern nur ein Getümmel von eigennützigen Elfen. Sie alle würden ohne Zögern dieselbe Brücke niederreissen, die ihr eigner Grossvater errichtet hat, wenn nur sie selbst schon sicher auf der anderen Seite sind!"

Überrascht spürte Lehyoz eine pulsierende Hitze in seinen eigenen Worten – eine Glut, die lange in ihm geschwelt hatte, hatte Zuunaru nun zu neuem Feuer entfacht. Das Leben wiegt morsche Knochen also nicht mit Weisheit auf! Ein greiser Tor, wer so viel und so laut träumt wie ich...

"Es stärkt meinen Mut, wenn ihr so meine Ängste teilt, Mentor! Auch ihr wünscht euch also schnelleres Handeln? Gut, dann will ich euch sagen, welche Idee in vielen schlaflosen Nächten in mir gereift ist!"

Wieder schaute Lehyoz seinem Gegenüber lange in die Augen. Dann antwortete er: "Die Nacht ist kalt geworden."

Zuunaru schien von diesen Worten kaum überrascht. In seiner Stimme klang der Wille härter als je zuvor: "Nein, sie war es schon seit langem. Aber der Morgen graut bald..."

*

Bevor Hanaya diesen Ort des Todes endlich verlassen konnte, musste sie noch eine Sache erledigen; sie ging in die Knie, suchte sich einen der unzähligen kleinen Knochensplitter aus und schob ihn vorsichtig in eine der vielen Taschen ihres Gewandes.

Eines Tages, vielleicht in zehn Jahren, würde sie ihrer Tochter diesen Splitter zeigen und ihr erzählen, wie das Tier, zu dem er einst gehört hatte, ihrer Mutter und ihr selbst einst das Leben gerettet hatte. Drei mal das Leben gerettet!

Das erste Mal, als sie nur deshalb nicht von den Zeebreui entdeckt und überrascht worden war, weil sie damit beschäftigt waren, eben jenes Tier zu verzehren.

Das zweite Mal, als der tote Körper des Tieres ihr ein Versteck bot, ein so gutes Versteck, dass sie sogar ihren Dolch aus dem Verborgenen in den ungeschützten Hals des Zeebreu rammen konnte.

Das dritte Mal als – bei diesen Gedanken durchlebte Hanaya die Momente der Angst noch einmal...

... der Zeebreu flog in kraftvollem Sprung auf sie zu. Sein siegesgewisses Brüllen hallte durch den Wald, es bohrte sich durch Hanayas Ohren direkt in ihr Gehirn. Schwarze Masse raste auf sie zu, tödlichen Fänge und Krallen und nur ein Ziel: Den Körper des Opfers binnen Sekunden zu zerfetzen.

Hanaya hielt noch immer den mit Blut beschmierten Dolch in ihrer rechten Hand, aber er würde diesmal nichts bewirken. Dieser Zeebreu würde seinen Hals besser schützen gegen die allzu kurzen Klinge der "Blutblüte". Zu kurz! Aber was sonst? Irgend etwas!

Da.

Hanaya handelte schnell und instinktiv, wohl kaum weniger instinktiv als der Räuber vor ihr. Zwei Instinkte, geboren vor Jahrtausenden und seit Äonen miteinander ringend, prallten hier und jetzt ein weiteres Mal aufeinander; Der Trieb zur Jagd, zum Töten gegen den Drang zum Überleben. Und nur eine dieser Urkräfte würde bestehen. Nur einer von uns zwe überleben.

Ihre Hände griffen in den Haufen aus Fleisch und Knochen, rissen eine der wenigen unversehrten Rippen heraus. Eine lange, oben spitz zulaufende Rippe. Die Spitze richtete sie nach oben, das untere Ende gegen die eigene Hüfte abgestützt. Dann die Augen zu und Abschied nehmen von der Welt. Yaazua!

Dem Zeebreu blieb kaum genug Zeit, zu begreifen, was geschah. Wo eben noch ein wehrloses Opfer zitternd auf seine Landung gearrt hatte, ragte plötzlich ein langer, weisser Knochen. Ein langer, spitzer Knochen. Mitten im Sprung konnte der Räuber nichts tun, er landete krachend genau im Zentrum der kleinen Senke.

Ein schriller Schrei, als die scharfkantige Rippe sich tief in seinen Bauch bohrte. Ein dumpfes Knacken, als sie unter dem Gewicht des Räubers irgendwo durchbrach.

Warmes Blut schoss aus der Wunde, ergoss sich über Hanayas schmerzende, noch immer krampfhaft den Knochen umgreifende Hände. Sie hatte keinen Zweifel: der Zeebreu würde sterben. Aber nicht sofort.

Sie warf sich zur Seite, ihr Gesicht schrammte grob über Kochensplitter und spitze Steine. Mit einem lauten Knirschen bohrte sich einen Herzschlag später der pralle Giftstachel des Zeebreu in den weichen Waldboden. Dort, wo eben noch Hanayas Kopf gewesen war.

Weg! Weg! Schmerz! Mein Arm...

Ihr linker Arm war unter dem massiven Körper des Jägers eingeklemmt. Das Tier starrte sie aus seinen goldenen Augen an. Zuckend zog es den schwarz-glänzenden Schwanz wieder zurück. Es liess ihn kaum einen Meter über dem Boden schlängelnd kreisen. Kalte Panik legte sich in alle Glieder Hanayas, sie warf sich mit zusammengebissenen Zähnen in dem Schlamm aus totem Fleisch, Dreck und warmen Blut hin- und her.

Der Räuber zog bitter knurrend seine Lefzen zurück. Sein Körper wurde bereits von schwachen Schauern des nahen Todes durchschüttelt Mit den Zähnen konnte er sein Opfer nicht mehr erreichen, aber vielleicht mit seinem Stachel!

Hasserfüllt sah Hanaya den lauernden Giftknorpel. Aus seiner Spitze quoll ein Tropfen einer dickflüssigen, hellen Substanz. Das Gift! Es läuft über... gleich wird er in meinen Körper... Nein!

Ein letzter Ruck, in dem mehr Kraft lag, als sie überhaupt in ihrem Körper vermutet hätte.

Ein stechender Schmerz, als ihre Schulter auskugelte.

Ein zorniges Bellen, der Giftstachel sauste nach unten.

Im ersten Moment wusste Hanaya gar nicht, ob sie davongekommen war. Sie lag schwer atmend kaum einen Meter neben dem leise winselnden Zeebreu, schaute in den Himmel, der hinter dichtem Blattwerk verborgen war. Noch einmal die Sterne. Du wirst sie nie sehen, Yaazua, meine Tochter. Nie den Sternenhimmel...

Hanaya lebte. Kein Gift war in ihrem Körper. Sie war so knapp unter dem Stachel weggerollt, dass dessen scharfe Kante ihr Gewand aufgeschlitzt und auf ihrem schwarzen Rücken darunter eine feine Linie aus leuchtend-rotem Blut gezeichnet hatte. Aber sie war am Leben.

... Was in ihrer Erinnerung ein ausdauernder Kampf zu sein schien, hatte wohl kaum länger gedauert als ein paar Augenblicke.

Und jetzt stehe ich hier und sammle Erinnerungsstücke für meine Tochter. Und ihr liegt tot im Dreck. Nur das zählt.

Hanaya war sich nicht sicher, ob sie das wirklich glaubte.

*

"Buh!"

Vamliz‘ Haare stellten sich am ganzen Körper auf, sein Herz setzte beinahe aus. Er erschrak derart, dass seine schwarze Haut für kurze Augenblicke einen hellvioletten Schimmer annahm.

"Geeroz! Ich... tu das nie wieder!" Noch bevor er diesen Satz wirklich beenden konnte, entlarvte ein leichtes Schmunzeln in seinem Gesicht den strengen Ton seiner Stimme als aufgesetzt.

Ein tiefes, gurgelndes Kichern rollte aus Geeroz breitem Mund, Freude strahlte über das Gesicht des riesigen Elfen. Vamliz hatte keine Chance, er prustete laut los – und schon krümmten sich beide vor Lachen, eine sehr kleine und eine übermässig grosse Gestalt im kleinen Lichtkegel der offenen Stalltür.

Beinahe hätte Vamliz dabei seine Angst vergessen. Geeroz, der Gehilfe seines Vaters, konnte ihn wieder und wieder in Entzücken versetzen. Der eigentlich schweigsame Stalldiener hatte immer Zeit für Vamliz, trug ihn auf seinen breiten Schultern, liess ihn auf einem der Gandarvas reiten, erkletterte mit ihm in den Gärten die Bergwände. Und Geeroz liebte es, den Jungen zu Tode zu erschrecken.

Es dauerte einige Minuten, bis die beiden wieder ruhig atmen konnten, da jedes Schmunzeln des einen den anderen wieder in Gelächter ausbrechen liess. Dann aber standen sie sich still gegenüber, liessen sich mittragen von der klare Stille des Anwesens. Eine Fledermaus huschte flatternd durch ihren kleinen Lichtflecken. Sie blickten ihr beide nach.

"Warst du so lange beim Mentor?", fragte Geeroz dann, "Es ist spät."

"Ja. Mentor Kosteras hat mir viele Dinge erzählt."

Weiter fragte Geeroz nicht. Er sprach nicht gerne über die Mentoren und ihre Lehren. Vamliz wusste nicht einmal, welcher Kaste er angehörte.

Die grosse, schwarze Hand, mit der Geeroz den Jungen dann sanft ins Innere des Stalles schob, fühlte sich auf dessen Rücken wie ein ruhender Schmetterling an. Vamliz liebte diese Hand. Er hatte gesehen, wie sie drei bockende Gandarvas auf einmal am Zügel hielt. Und wie sie sanft den hungrigen Bergspatzen am Morgen das Futter reichte.

Wärme, gedämpftes Licht. Das murmelnde Schnarchen der Gandarvas, ihr intensiver Geruch. Dazu die langsamen, sicheren Schritte des Stalldieners neben ihm. Vamliz fühlte sich endlich wieder geborgen. Die Nacht war da draussen irgendwo.

Draussen, in der Kälte, im Dunkel. Der hohe Berg, das tiefe Land, die Wildnis...

...Lady Hanaya!

Er blieb kurz stehen, als dieser Gedanke ihn wieder an das Ritual erinnerte. Als wäre er unter einen Schwall kalten Wassers geraten, fuhren ihm alle schon beinahe vergessenen Sorgen durch den Körper. Der Anblick von Geeroz‘ breiten Rücken konnte ihn diesmal nicht beruhigen.

"Dein Vater schläft schon. Aber ich habe einen ganzen Kessel heisses Booscht. Du bist sicher..." Verdutzt drehte Geeroz sich um, da er die Schritte des kleinen Jungen nicht mehr hören konnte. Vamliz stand einige Meter hinter ihm und sah mit leeren Augen zu Boden.

Mit zwei weiten Sprüngen war Geeroz neben ihm, ging schnell in die Hocke, so dass die beiden sich gerade in die Augen schauen konnten. "Vamliz, was ist? Soll ich jemanden rufen? Bist du ...-" Aber eigentlich konnte sich der hünenhafte Stalldiener nicht erklären, was mit dem Jungen los war. Verletzt war er bestimmt nicht.

Vamliz seufzte leicht und schaute Geeroz tief in die Augen; "Geeroz, unsere Lady vollbringt heute das Yshnaz-Ritual. Ich... Mentor Kosteras hat mir davon erzählt, wie sie dabei geprüft wird."

Für einen winzigen Moment entflohen Geeroz‘ Augen Vamliz‘ Blick. Er murmelte: "Ja, das Yshnaz-Ritual. Ich kenne es." Dann erhob er sich wieder zu voller Grösse und ging etwas unentschlossenen Schrittes zu einem der steinernen Stallabteile hinüber, sah nach dem Gandarva darin.

Vamliz aber, obwohl er wusste, dass Geeroz nie gerne über die Rituale sprach, musste seine Sorgen irgendwie abladen; "Die erste Prüfung, die Prüfung im Wald – bestimmt wird unsere Herrin sie bestehen. Aber dann ist es noch nicht vorbei! Das Kind selbst wird nach der Rückkehr der Elfin geprüft, und wenn es nicht ganz gesund ist, wenn es nicht gut sieht oder hört, wenn -" Der Stalldiener hatte sich nun tief in die Box gebeugt, fütterte das Tier darin mit einer Handvoll Körnern. Dumpf drang seine Stimme aus dem Dunkel; "Ja, ich kenne das Ritual!"

Hastig und auferegt sprach Vamliz weiter: "Wenn das Kind die Prüfung nicht besteht, bedeutet das eine Schande für die ganze Familie! Kosteras hat mir gesagt, dass der Vater, die Mutter und das Kind ihren zweiten Namen verlieren und für immer ehrlos sein werden!"

Der massige Körper Geeroz drehte sich plötzlich rasch um, in seinen Augen sah Vamliz zum ersten Mal so etwas wie Zorn. "Ich kenne das Ritual!" schrie der Stalldiener, seine Worte dröhnten durch den alten Stall. Ein verstörtes Murmeln war die Antwort der aus dem Schlaf gerissenen Gandarvas. Dann stampfte Geeroz eilig davon, schlug die schwere Holztür hinter sich zu. Und Vamliz war wieder alleine.

Eine Träne kroch aus seinem Augenwinkel, ein lautloses Schluchzen durchzitterte seine zusammengesunkenen Schultern. Und dann begriff er plötzlich. Geeroz... deshalb kannte ich nie seinen zweiten Namen – er hat keinen! Keinen mehr!

So viel länger braucht er immer, um eine Aufgabe zu verstehen, so wenig weiss er von den Lehren... aber doch kennt er das Yshnaz-Ritual! Ich hätte nicht... aber...

Langsam fanden die Gandarvas wieder ihre Ruhe, steckten vorsichtig ihre schmalen Köpfe zwischen Körper und Flügel. Einige ausgerissene Federn schwebten wiegend zurück zum strohbedeckten Boden.

Stille breitete sich im warmen Stall aus, dahinfliessend wie süsser Honig. Viele Meter über den Strohballen und den Kornsäcken verschwand die runde Kuppel mit den uralten Fresken hinter den im Gebälk hängenden Schatten. Der Feuerschein der wenigen Fackeln bemalte die Marmorwände dick mit rot-oranger Farbe.

Dort, irgendwo an einer hölzernen Aussenwand eines Stallabteiles, in sich zusammengekauert zu einem kleines Häufchen: ein Elfenjunge, bitter weinend.

*

" Wer aber meint, dass Elfen und Menschen einen gemeinsamen Ursprung hätten, der täuscht sich und sein Volk auf grausamste Weise! Wie die Vögel und die Fische sind auch wir und sie grundverschieden: Und wer denkt, dass ein Elf unter Menschen oder ein Mensch unter Elfen leben könne, der solle mir zuerst den Vogel zeigen, der Wasser atmet, und den Fisch, der übers Land geht! "

Aus der Rede der Wasser-Mentorin Aaria d’Oonyz beim "Dritten Grossen Konzil"
 
 
Ungläubig betrachtete Hanaya die Schnittstelle. Sie war in der zu Ende gehenden Nacht beinahe getötet worden, sie hatte sich in totem Fleisch und Knochenstücken gewälzt, sie hatte sogar selbst töten müssen. Der Tod war allgegenwärtig gewesen in diesen Stunden. Aber es war Hanaya nicht vergönnt, sich nun endlich wieder dem Leben zuzuwenden: In den dunkelgrauen Nebelschwaden der zaghaft in den Wald kriechenden Morgenstunden war sie erneut auf einen toten Körper gestossen. Der dritte Zeebreu.

Jetzt wusste sie auch, weshalb dieser Jäger sich nicht auch auf sie gestürzt hatte. Jemand hatte seinen Kopf mit einem Streich vom Rumpf abgetrennt. Der Hals des Zeebreu, der ungefähr den selben Durchmesser hatte wie Hanayas Taille, endete in einer glatten Schnittfläche, aus der so viel Blut geflossen war, dass es sich nun in grossen Pfützen auf dem Laub darunter sammelte.

Der Kopf des Zeebreu war einige Handbreit hinuntergerollt, die toten Augen blickten starr nach oben, als warte er auf den Aufgang der Sonne. Die frühen Vögel begannen zaghaft ihr Lied, und Hanaya fand die ganze Szene beinahe friedlich...

Bald würden die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach fallen und einen grün schimmernden Schein über alles werfen. Die zwei goldenen Kugeln in des Zeebreu Fratze würden im Morgenlicht erstrahlen. Hundertschaften von geschäftigen Insekten sich über den toten Tierkörper hermachen; ein unerwartete Festmahl.

Wer ihnen diese Freude beschert und diesem Monster den Kopf abgeschlagen hatte – und vor allem wie er das getan hatte, das war Hanaya ein Rätsel. Aber eines, das sie entweder später oder gar nie lösen würde. Jetzt musste sie sich endlich einen Ort suchen, um ihre Tochter zu gebären. Möglichst weit weg von irgendwelchen Kadavern!

In das fahle Grau der kühlen Dämmerung mischten sich immer intensivere Farbtöne; Das schwere Braun der Baumrinden, das dunkle Grün taunasser Moose, manchmal ein schwaches Rot zarter Flechten.

Hanaya erkannte erst jetzt, wie schön dieser Ort eigentlich war. Was ihr in den vergangenen Stunden wie ein Schattengrund voller heimtückischer Wurzeln und dornenbewehrter Sträucher erschienen war, zeigte nun ein anderes Gesicht. Zu Füssen der riesigen Bäume verborgen tausend verschiedene Pilze, im weichen Waldboden reife Beeren und üppige Büsche. Überall nun betriebsames Kriechen und Krabbeln, Huschen und Flattern. Die frühen Sonnenstrahlen und der leise Morgenwind hauchten Leben in den erwachenden Wald. Sie hatte plötzlich das Gefühl, durch einen wundersamen Tempel zu wandelen, einen alleine der Schönheit der Natur gewidmeten geheimen Tempel.

Dass sie mit Blut und Dreck beschmiert war, dass die frische Luft auf ihrer nassen Haut sie frösteln liess, dass ihr Gewand zerschunden und zerrissen an ihrem erschöpften Körper hing – Hanaya bemerkte es kaum. Mit den Händen hielt sie zärtlich ihren Bauch, liebkoste ihre Tochter, die bald in diese Herrlichkeit der Welt hineingeboren würde.

Was auch immer an Schrecklichem passiert war in der vergangenen Nacht, dieser darauffolgende Tag war dadurch nur um so prächtiger. Nichts liegt jetzt zwischen mir und –

Ein Schreckensblitz fuhr Hanaya durch alle Knochen, als sie plötzlich lautes Schreien hörte! Sie merkte sofort, dass diesmal keine Zeebreui auf sie lauerten: es war eindeutig ein Säugling, der da so jämmerlich weinte! Wenige Meter zu ihrer Linken nur.

Sie kletterte gewandt über einen umgestürzten Baumstamm und erblickte dann genau das, was ihr hämmerndes Herz zu erblicken gefürchtet hatte; Vor ihr lag in weiche Tücher gewickelt, halb unter den knorrigen Stamm geschoben, ein schluchzender Säugling, mit rosig-weisser Haut und kleinen, runden Ohren. Ein Menschling!

Es gab keinen Zweifel daran, was Hanaya nun tun musste. Nämlich gar nichts.

Und es war ihr auch klar, dass sie genau dies tun würde. Nicht nur, dass ihr schon als Kind immer und immer wieder von den riesigen Unterschieden zwischen Elfen und den Menschen berichtet worden war. Menschen waren tierhafte, unverständliche Kreaturen. Gerade in den vergangenen Jahrzehnten war der Kontakt zum tiefen Land fast vollständig abgebrochen, nur noch selten sprach man überhaupt von den Völkern dort, und man tat es meist mit gedämpfter Stimme und einem flauen Gefühl im Magen – zumindest in den adligen Kreisen, in denen Hanaya verkehrte.

Menschen! Ich weiss nichts über sie, nur dass ich ihnen aus dem Weg gehen muss!

Und nun dieser hilflose Säugling...

Hatte sie sich denn so weit von Omoy entfernt? Die Menschen hielten sich doch vom Ifin-Berg fern, wie also war dieses Kind hierhergekommen? Hanaya hatte schon davon gehört, dass Menschen ihre Kinder aussetzten – auch Elfinnen taten dies mitunter.

Aber selbst wenn zufällig vorbeiziehende Menschen diesen Säugling zurückgelassen hatten; weshalb hatten sie ihn so tief im Wald versteckt? Sich so nahe an Ifin herangewagt?

Zahllose Fragen schossen durch Hanayas Kopf. Das winzige Wesen, das zu ihren Füssen lag, schaute sie aus weit aufgerissenen, kreisrunden Augen an. Es versteht die Welt wohl genau so wenig wie ich es im Moment tue.

Aber auch nach einigen bangen Minuten gab es überhaupt keinen Zweifel daran, was Hanaya tun musste.

Nämlich gar nichts.

Und das tat sie. Sie ging weiter.

Dann, endlich, fand sie ihren Platz. Eine weiche, moosbewachsene Stelle, gut geschützt von einem kleinen Felsen und einem mächtigen Baum.

Erschöpft, erschüttert, hin- und hergerissen zwischen Freude und Scham, Glück und Trauer, liess Hanaya sich nieder. Dann schloss sie alles um sich herum aus ihrer Welt aus. Es durfte jetzt nur noch sie und ihre Tochter geben. Die Geburt. Yshnaz.

*

Der Felsreiher hob würdevoll seinen langen Hals, entfaltete seine grau-blauen Flügel auf ihre ganze Breite. Mit kraftvoller Eleganz begann er langsam mit ihnen zu schlagen. Er gewann zunehmend an Geschwindigkeit, während sein schlanker Körper nach und nach aus dem dunklen Teich stieg. Majestätisch war des Reihers Anblick, als er für kurze Momente auf dem Wasser zu gehen schien – ein König, der durch sein Königreich schreitet. Immer weiter wurden dann die Abstände, in denen seine Beine kleine Wellenkreise auf dem Wasser hinterliessen.

Endlich schwang er sich in die Lüfte, und während die Welt schnell unter ihm wegsank und er den rosafarbenen Wolken im klaren Morgenhimmel entgegenflog, verschwand auch sein Zwillingsbild, das sich auf der tiefblauen Wasseroberfläche gespiegelt hatte.

"Krieg also?"

Lehyoz‘ Stimme klang bitter und sehr müde. Der greise Mentor wusste, dass diese Müdigkeit nicht nur von der vergangenen Nacht stammte, in der er keine Minute geschlafen, sondern stundenlang mit Fürst Zuunaru gesprochen hatte.

Es war eine tiefe, alte, hartnäckige Müdigkeit. Und obwohl er sie schon seit vielen Jahren kannte, hatte er sie noch nie so sehr gespürt wie in diesen Stunden. Wie jetzt, da Zuunaru ihn in seine Kriegspläne eingeweiht hatte.

Zuunaru gab keine Antwort. Er hatte wohl lange genug gesprochen, es war nun wohl an Lehyoz, das Gespräch weiterzuführen. Erst als der Felsreiher nach langen Minuten hinter einer steilen, schattenumhangenen Bergwand aus des Mentoren Blickfeld verschwunden war, sprach er weiter: "Fürst Zuunaru, ihr habt mit grossem Geschick eure Sache dargelegt, mit Worten, die bezeugen, dass ihr alles andere als ein Narr seid.

Ja, das Volk der Elfen muss seine Tugend wiederfinden. Und ja, dazu muss es eine gemeinsame Aufgabe haben. Und ein drittes Ja: nichts eint ein Volk so stark wie ein heiliger Krieg. Aber..." Nur selten kam es vor, dass Lehyoz wie jetzt um Worte ringen musste. Er hatte sich angewöhnt, langsam und selten zu sprechen, und dafür schnell und oft zu denken. Im Moment aber durchwühlten sein Herz so viele Gefühle, dass es ihm im Innern fast schwindlig wurde.

"Aber wenn der Krieg vielleicht auch der richtige Weg ist, so ist es doch nicht mein Weg!" sagte er schliesslich.

Zuunaru schaute ihn mit unveränderter Miene an. Weder Enttäuschung noch Wut zeigte sich in seinem Gesicht. Nichts in seinen wachen, glänzenden Augen deutete darauf hin, dass er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Ruhig sagte der Fürst: "Mentor Lehyoz, wenn ich auch nicht verstehen kann, was euch an den primitiven Stämmen des tiefen Landes liegt, so will ich dennoch eure Entscheidung respektieren...

Ich erwarte aber, dass ihr dasselbe für mich tut. Meine Pläne werde ich ohne eure Hilfe nur sehr schwer vollbringen können. Wenn ihr gegen mich handeln würdet, so wäre ganz bestimmt jede Hoffnung auf Gelingen dahin!"

"Was erwartet ihr also von mir, Zuunaru?"

Fürst Zuunaru verschränkte die Arme und wandte seinen Blick wieder weg von Lehyoz, liess ihn über den weiten Himmel streifen. Erst nach einer kleinen Pause sprach er weiter, und es war seiner Stimme anzumerken, wie wichtig ihm diese Bitte war – und wie unerbittlich er darauf bestehen würde:

"Mentor Lehyoz, den Rat der Mentoren und die hohen Familien von meinem Ziel zu überzeugen wird nicht leicht. Unter Umständen kann es nötig werden, in meinem Kampf das Ziel... höher zu werten als andere Dinge. Als die Wahrheit zum Beispiel."

Der greise Alte wusste genau, was mit diesen Worten gemeint war. So ungerührt wie möglich unterbrach er Zuunaru, bevor dieser weitersprechen konnte: "Ihr wollt also, dass ich mich ruhig verhalte, solltet ihr jemals gezwungen sein, den Rat anzulügen? Anzulügen über das tiefe Land?"

Zuunaru war nun nicht mehr so gefasst wie vorher. Er entgegnete dem Mentoren schroff: "Ihr wisst so gut wie ich, dass unsere Kenntnisse über das tiefe Land sehr spärlich sind! Unser Volk lebt in den Bergen seit Jahrhunderten – der letzte Elf, der sich längere Zeit bei den Barbaren aufhielt, war..."

Schnell füllte der greise Mentor den Namen ein, bei dem Zuunaru stockte; "... war der Wasser-Mentor Zhuuik aus Amyor, vor fast hundert Jahren."

Doch Zuunaru liess sich in seiner Rede nicht unterbrechen, nahtlos fügte er seine Worte an die Lehyoz‘ an: "Einhundert! Seither entfernten wir Elfen uns immer weniger weit von unseren Städten, wir überliessen die fremden Völkern immer grössere Teile des Landes!

Seit es der Luft-Kaste möglich ist, Nahrung gefahrlos aus dem Nichts zu schaffen, gibt es für die meisten von uns keinen Grund mehr, überhaupt noch unter freien Himmel zu treten!

Lehyoz, ich fürchte um die Zukunft des Elfenvolkes!

Es ist zuwenig bekannt über das tiefe Land, als dass ich nur gesichertes Wissen verwenden könnte bei meiner Aufgabe – erwartet nicht, dass ich mich davon werde aufhalten lassen!"

Zuunaru war immer erregter geworden, seine Stimme hitzig und laut. Als es nach seinem letzten, beinahe geschrienen Wort wieder still wurde auf der Terrasse, schien die nüchterne Ruhe des Teiches und des dahinter liegenden Wäldchens wie eine grosse Welle auf Lehyoz zuzubranden und seine Gedanken unter sich zu begraben.

Nicht oft war eine Entscheidung so schwer. So sehr ich den Tod fürchte, wünschte ich ihn in dieser schweren Zeit doch beinahe herbei. Die Jahre vor uns, wie mögen sie aussehen? Und was werde ich darin für eine Rolle spielen...?

Ganz am Rande seines Blickfeldes sah Lehyoz plötzlich eine Bewegung. Er wandte sich schnell nach links, um zu sehen, wer dort bei den Ställen so früh schon umherging. Ein kleiner Junge verschwand gerade hinter der Ecke des Palastes, seine hängenden Schultern schwangen im müden Trott.

Lehyoz erinnerte sich nicht, den Jungen zu kennen, aber beim Anblick dieses Kindes fiel ihm wieder ein, was ihm ganz zu Beginn dieses Gespräches doch so wichtig gewesen war. Noch einmal haderte er mit seinem Entschluss, er biss sich auf die Unterlippe – es war Jahre her, dass er solch eine Geste der Unsicherheit gemacht hatte.

Dann ging ein Ruck durch seinen langen, dünnen Körper und er wandte sich an den immer noch auf eine Antwort wartenden Zuunaru: "Fürst Zuunaru, ich willige ein! Ich werde euch freien Lauf lassen, was eure Pläne angeht.

Aber ich habe eine Bedingung; Wie wir es schon besprochen haben, will ich das Kind, das euch in dieser Nacht geboren ward –" Überrascht schaute Zuunaru auf, dann flüsterte er leise: "Mein Kind...". In seinen Gedanken hatte es keinen Platz mehr gefunden. Ich bin seit heute Morgen Vater...

Lehyoz liess seinem Gegenüber keine Zeit, lange zu grübeln: "Ja, ich will, dass ihr mich euer Kind erziehen lasst. Wie wir es abgesprochen haben, werde ich nicht nur sein Mentor, sondern sein Tutor sein - und mehr als das!

Wann immer ich will und wie lange ich es will werde ich euer Kind unterrichten. Wenn es um euer Kind geht, soll mein Wort das eure jederzeit brechen! Ihr kennt meinen Wunsch – während ihr unser ganzes Volk zur alten Ehre zurückführen wollt, will ich dasselbe mit einem einzigen Elfen tun: eurem Nachkommen."

Ein Ausdruck von Wut und Trotz huschte so schnell über Zuunarus Gesicht, dass selbst der greise Lehyoz sich nicht sicher war, ihn wirklich gesehen zu haben. Dann aber drehte sich der Fürst zackig um, warf seinen Mantel schroff über die linke Schulter. Er trat zur Schwelle des Eingangs und blieb kurz stehen.

Ohne Lehyoz anzusehen sagte er mit sachlicher Stimme: "Gut, so soll es sein! Und jetzt entschuldigt mich, Mentor, es gibt viel zu tun."

Schnellen, festen Schrittes verschwand die hochgewachsene Gestalt dann im Innern des Palastes, das Schwarz des Mantels sickerte rasch in die Dunkelheit des Saales.

Lehyoz, der nun alleine auf der hellen Veranda stand, verweilte noch ein paar Minuten. Er kniff die Augen zusammen, schaute in den verlassenen Park hinaus.

Wirklich - ein kalter Frühling...

*

Der Felsreiher flog in weiten Kreisen über einige früh aufgestandene Elfen hinweg, dann wandte er sich von Omoy weg. Er liess sich auf warmen Luftströmen nach Norden treiben, liess den Blick sachte über das Land schweifen. Glitt gewandt sanfte Kurven hinab- und wieder hinauf.

Seine Augen waren sehr scharf, aber die Bäume des Silwan-Waldes versperrten ihm die Sicht auf den Grund. Er sah nicht, dass er nach einiger Zeit über eine Elfin dahinflog, hunderte von Metern über ihr. Über eine Elfin, die sich eng zusammengekrümmt hatte, Das Gesicht und ihre Arme verborgen wie ein zusammengerollter Igel.

Lange hockte sie reglos in dieser Position. Blutbeschmiert und in verdreckten, zerrissenen Kleidern war sie auch für die Tiere am Boden kaum unterscheidbar von den Felsen, den Büschen und den Wurzeln des grossen Errs-Baumes, die sie umgaben.

In den leicht zitternden Händen Hanayas lag ein toter Elfensäugling, den sie fest an sich drückte.

*

" Und so nahm das erste Jahr des Zeitalters, welches die "Passion" geheissen wird, seinen Anfang. Nicht viele ahnten damals, dass die nachfolgenden Jahre so stürmisch und schicksalhaft werden sollten. Und die es ahnten, hatten doch keine Vorstellung davon, welchen Plan das Schicksal für sie hatte.

Einer von denen, die die kommenden Wirren im Zentrum miterleben sollten, war Fürst Zuunaru d’Huuva. Er machte sich im ersten Jahr der Passion daran, die Elfen zu rüsten für den Kreuzzug gegen die Menschenvölker.

Den Nachkommen, der ihm seine Gefährtin Hanaya d’Huuva schenkte, übergab er der Obhut des Mentoren Lehyoz d’Antuv, der dessen Tutor wurde. Streng war Lehyoz bei der Erziehung, unerbittlich bei den Vorschriften und hart im Unterricht.

Doch nach zweiundzwanzig Jahren war sein Schüler "in allen vier Lehren standfest und in einer überragend". Wie kein Elf in den Jahrzehnten vor ihm beherrschte der Schüler das Wirken der Luft-Lehre. Und des Schülers grosse Tugend und meisterliche Beherrschung der Lehren war nicht unbemerkt geblieben bei den Elfen Omoys.

So kam es, dass Lehyoz‘ Schüler, Zuunarus Nachkomme, bald vielerorts unter einem neuen Namen bekannt war.

Denn er ward genannt der "Elfensohn". "

Aus "Das Zeitalter der Passion" vom Hofgelehrten Bernard zu Traubental


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Ende des ersten Kapitels "Yshnaz – Die Geburt"

© Moritz Gerber