BEHAUPTUNG

Herr Zwirbelbart behauptet hartnäckig, jeden Abend alleine und bei sich zuhause zu verbringen.

Im Alter von 7 Jahren war er einmal, die Idee eines Freundes, bei Vollmond vor die Haustür eines hübschen, gleichaltrigen Mädchens aus der Nachbarschaft getreten, hatte geklingelt, hatte dem Vater, der die Türe öffnen kam, mutig gesagt, er wolle hinaus auf den See, eine Ruderfahrt unter Sternen. Das Töchterlei durfte mit, es ist nicht mehr zu ermitteln, wieso – im Rückblick fasst man sich natürlich an den Kopf, wenn man hört, wie leichtsinnig jener Vater sein Kind aus der Obhut gegeben hat, auch wenn es bloss für einen Abend war, oder hätte sein sollen.

Herr Zwirbelbart, den damals noch alle „Toni!“ riefen, denn seinen richtigen Namen wollte er keinem verraten, ging mit dem hübschen Mädchen und dem Freund, von dem die Idee dieser ganzen Unternehmung ja stammte, tatsächlich zum See. Es war später Abend, es war dunkel, und es war niemand weit und breit ausser unseren Dreien. Herr Zwirbelbart stieg in sein Boot, reichte dem Mädchen kourtuös die Hand, damit es ihm besser folgen könne. Sowieso war er erstaunlich galant für einen Herrn seiner 7 Jahre, das muss man auch heute noch eingestehen.

So ging es dann hinaus auf den See, wunderbar alles, der Mond, Vollmond, der See als schwarzer Spiegel des Himmels, alles unter Sternen. Herrn Zwirbelbarts damaliger Freund, der natürlich auch mit im Boot sass, wollte den Plan nun vollendet sehen, gab das Stichwort (komischerweise: „Eierdieb!“), und Herr Zwirbelbart liess sich nicht lange bitten, packte seine kleine Nachbarin, warf sie mitten auf dem See über Bord, ins pechschwarze, tiefe Nass. Schnell und mit Kräften, die man ebenfalls seinen 7 Jahren zufolge nicht erwartet hätte, paddelte er zurück ans Ufer. Wobei sein Freund stumm dasass und weder beim Packen und Werfen, noch beim Paddeln und Vertäuen im Geringsten Hand anglegte, was auch nie ernsthaft jemand behauptet hat.

Das Mädchen wurde nie wieder gesehen - zehn Jahre später gab es allerdings eine kurzlebige Bewegung von „Müttern verschollener Kinder“, die es heiligsprechen lassen wollten. Aber so einfach ist das nicht mit dem Heiligsprechen. Als der Papst von diesem Ansinnen informiert wurde, ist dies noch dazu in der denkbar ungünstigsten Situation geschehen; er sass eben am Abendessen, Donnerstags, und Donnerstags gibt es immer Fischstäbchen und zum Nachtisch Vanilleeis. An jenem Abend hatte der Papst gleich zweimal sein schönes Gewand bekleckert, einmal mit Mayonnaise für die Fischstäbchen, dann noch mit der geschmolzenen Schokolade für das Vanilleeis. Der Emissär der „Mütter verschollener Kinder“ kam dazu und schilderte dem Papst deren Gesuch um Heiligsprechung. Der Papst seinerseits war mit den Gedanken bloss bei den Flecken in seinem Gewand, Mayonnaise und Schokolade, beinahe wurde er ärgerlich, aber da rettete er sich in einen Scherz, und beschied dem Emmisär: „Jetzt habe ich schon Mayonnaise und Schokolade an meinem Talar, da werde ich mich nicht auch noch mit einer Heiligsprechung bekleckern!“ Darauf musste er lachen, er fand diesen Spruch treffend lustig, und der Emmisär zog sich unauffällig zurück.

Auch andere Kreise haben hier und dort versucht, dem Mädchen irgendwie auch posthum noch etwas Gutes zu tun, aber solche Vorstösse bleiben die Ausnahme – schliesslich ist Herr Zwirbelbart alles andere als eine nebensächliche Grösse, es ist Rücksicht zu nehmen auch und gerade auf ihn. Dass Herr Zwirbelbart eine sensible Person ist, ist kein Geheimnis.

Mit 7 Jahren kann er also ins Gefängnis, für beinahe ein Jahrzehnt, aber das ist ja alles schon fast vergessen. Komisch ist allerdings, und hiermit kehren wir zum eigentlichen Thema zurück, dass Herr Zwirbelbart auch jetzt noch, da so viele Jahre ins Land gezogen sind und Frühling und Sommer gekommen, dass er immer noch behauptet, jeden Abend alleine zu verbringen, bei sich zuhause. An der Behauptung hält er fest, und uns bleibt nicht mehr zu tun, als dies festzustellen und unsere eigenen Schlüsse zu ziehen.

Wobei man natürlich wehmütig werden kann, ein wenig neidisch auch; was für eine Ironie des Schicksals! Stur hält Herr Zwirbelbart an dieser Behauptung fest, ausgerechnet er, obwohl ihm doch eigentlich die Welt, die ganze Welt weit offenstünde!
 
 


© 2000 Moritz Gerber