AM FENSTER

Eine Kurzgeschichte von Moritz Gerber

Ein Gedankenknistern flackert plötzlich auf, rieselt glitzernd durch die tintenschwarze Ruhe in meinem Kopf. Sanft antwortet der Körper darauf mit einem leisen Zucken; es genügt, um die dünne Schicht Schlaf, die sich wie Tau auf mich gelegt hat, aufzuschrecken und ins Dunkel der umgebenden Nacht zu verstreuen.

Wachheit schiesst schnell und lautlos vom Kopf in alle Glieder und wieder zurück; ein Ich setzt sich zusammen, und stellt gleich fest, dass es eigentlich ja schon von Anfang an da war. Durch die wollene Müdigkeit des Körpers pocht ein dumpf anschwellendes Gefühl. Die Blase.

Torkelnd wie eine von ungeübter Hand geführte Marionette richte ich mich auf, rühre die Arme im lichtlosen Zimmer, an der Wand Halt zu suchen. Mein Denken treibt träge umnebelt im warmen Schatten des Schlafes, drängt geduldig zur Tür. Ihm folgt mein schwankender Gang.

Ich schalte im Klo die Lampe ein, blendend stürzt das Licht durch die engen Augenschlitze in den Kopf, die Schatten schmelzen rasch. Der dunkle Schleier, der eben noch aus Türen und Wänden ein Labyrinth der Rückseite der Dinge gemacht hat, wird abrupt hinter die banale Landschaft der Realität gerissen. Schliesslich bleibt nur noch nackte, kontrollierte Nüchternheit übrig, und mit ihr ich.

Die weisse Wand über der Kloschüssel ansehend lausche ich dem hallenden Plätschern – neben dem Brummen der Lüftung das einzige Geräusch, die von langer, tiefer Stille durstig gewordenen Ohren können nicht anders als es in sich aufzusaugen. Das trockene Papier ist ein Happen Eindruck für den Tastsinn, das Rauschen der Spülung dann ein Nachtisch für das Gehör. Als nächstes kommt das Händewaschen.

Während ich darauf warte, dass das über den vorgestreckten Zeigefinger strömende Wasser zögernd wärmer wird, richtet sich mein noch vom Schwarz des Traumes trunkener Blick zum Spiegel. Ich sehe mich, eine blasse, leise Form meiner selbst, ungeschützt wie eine nur halb in ihr Haus zurückgezogene Schnecke. Meine Augen...

Ich blicke in meine Augen, und da ich mich nach vorne beuge, fällt der Schatten meiner Stirn auf sie, und da sie im Schatten sind, weiten sich die Pupillen. Sie weiten sich, und sie tun es nicht weniger automatisch und mechanisch als das Drehen von Turbinen, das Stampfen von Kolben, das Wälzen von Zahnrädern einer Wirklichkeits-rasternden Maschine. Mitten in der Nacht stehe ich vor dem Spiegel und sehe in die Fenster meiner Seele, und es sind keine Fenster, sondern Apparate, Konstruktionen, Automaten. Leer starren diese beiden Objektive aus mir heraus, in mich hinein, und nehmen meinem Geist den Platz.

Der kalte Tropfen einer Frage fällt hell plätschernd in den Teich meines Bewusstseins, aus den Wellen, die er anstösst, spriessen Gedankengerüste empor, schiessen sich tausendfach verzweigend und umrankend nach allen Richtungen, gleichzeitig überallhin und überallher.

Was bin ich, wenn dies meine Augen sind? Wer schaut wen an, wenn dies meine Augen sind? Selbsttätig fokussierende Linsen, lichtempfindeliche Flächen, dahinter Kabelstränge, die elektrische Signale leiten, dies alles mir in den Schädel eingewachsen und ausserhalb meiner Kontrolle. Schon lange Gewusstes schiesst aus der Gedankentiefe an die Oberfläche des Jetzt und wird in neuer Weise erfasst, formt eine Antwort: ein Gerüst aus Knochen, ein komplexes Röhrengeflecht, durch das monotone Pumpenschläge dickflüssige Sosse aus Antriebs- und Baumaterial drücken, ein verschachtelter Mechanismus mit Scharnieren und Ventilen, Strängen, Schalen, Reparatur-, Heiz- und Belüftungssystemen. Alles vollständig automatisiert, keiner Anweisungen bedürfend.

Wenn dies meine Augen sind, wenn dies mein Körper ist: Bin ich? Bin ich in der Nacht aus einem Traum erwacht, habe ich ein Bedürfnis empfunden, habe ich mich entschieden, aufzustehen? Roboter träumen nicht. Der Mensch als Maschine – dieser schon lange bekannten Möglichkeit habe ich noch nie so bewusst in die Augen gesehen, und jetzt, da ich es tue, sind es meine eigenen. Ich?

Die Augen als Fenster zur Seele. Doch hat im Zentralcomputer der funktionellen Einheit, die sich für mich hält/für die ich mich halte, eine Seele keinen Platz. Ein Leben erbleicht, wenn durch zwei leblose Kameraobjektive betrachtet. Gefühle und Erlebnisse als Programmzyklen und Speicherungssequenzen. Nach der Täuschung von Liebe/Hass zersprengen auch Zeit/Raum zu blossen Parametern. In den Kopf ein- oder aus ihm ausgeschlossen, ein Ich sucht in der gleissend hellen Kälte nach Dunkel, nach Brüchen, nach Zufall.

Plötzlich ein Blinzeln der Augen, es schneidet den Gang der Überlegungen ab. Wie Artisten nach getanem Kunststück huschen Gedanken und Gefühle rasch aus der Manege meines Bewusstseins. Mit ihnen entschwindet die grosse Präsenz der Wahrheit, in die ich kurz eintauchte und die mir nun schon wieder fremd, kraftlos und banal zu erscheinen beginnt.

Ich trete in mein Zimmer, der warme Geruch des Schlafs umfasst mich. Schwer sinkt mein Kopf in die weiche Wolke, die mein Kopfkissen ist. Sind wir Maschinen? Gaukeln wir uns bloss vor, dass die automatisierten Prozesse unseres Organismus ihren tiefsten Grund in der Seele haben?

Die Denkfäden ziehen sich in immer weitere Längen, träge schwingende Unendlichkeit. Im steigenden Nebel des Träumens verschwinden Richtung und Gerichtetheit. Einmal noch entdecke ich den durchsichtigen Schatten eines wegtreibenden Bildes; im schwarzen Strom der Nacht ein kurzes Erwachen, ein Blick aus unbekannten Augen, ein Blick in unbekannte Augen. Da segelt auf Gedankenflügeln eine Frage vorbei, ich greife nach ihr, greife ins Leere, stolpere, falle. Mir entgegen stürzt der lautlos wogende Vorhang aus dunkelstem Unbewusstsein: umfasst mich, bevor wir uns erreicht, ist eins mit mir und all dem Nichts, ist Stille, ist Schlaf.

 

 

 

enstanden im Februar 2000,

© Moritz Gerber